Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
Konzentrationslager Buchenwald.
Es klopfte an der Tür, Anne erschien und setzte sich ihm gegenüber an den Schreibtisch. Sie lächelte ihn an. »Na, Krise überwunden?«
»Ich habe keine Krise. Ich bin vielleicht nachdenklicher als sonst.«
»Als ließe sich das steigern, was du für Nachdenken hältst und ich für Missmut«, lachte sie. »Wir gehen nachher in die Mensa, wenn es Ihnen recht ist, Herr Doktor, und danach machen wir Mittagspause bei mir zu Hause. Ich wüsste auch schon, wie wir die Zeit herumkriegen könnten.« Sie grinste ihn an, wartete nicht auf eine Antwort, sondern stand auf, ging um den Schreibtisch herum, nahm sein Gesicht in ihre Hände und küsste ihn auf die Nase, dann auf den Mund. »Kein Widerspruch«, sagte sie leise. »Gegen ein Uhr bin ich wieder da, und du bist dann bereit. Klar?« Dann verschwand sie.
Erst freute er sich, dann sank seine Stimmung. Wenn sie ihn nicht so liebte, wie sie es offenkundig tat, wäre alles einfacher. So aber konnte er sich ihr kaum widersetzen. Sie hielt die Zügel auf so liebevolle Weise in den Händen, wie sollte er sich wehren? Sie glaubte zu wissen, was gut war für ihn. Es bestärkte sie, immer wieder richtig gelegen zu haben. Wenn sie nicht entschieden hätte, wären sie nicht zusammen. Und doch fühlte er sich bevormundet.
Er drehte sich zum Computer und begann die Einleitung noch einmal zu lesen. Ganz von vorn und dann zäh bleiben bis zum Ende. Dann wird es eine Arbeit aus einem Guss. Die ersten Absätze gefielen ihm, er hatte wenig zu verbessern. Er entsann sich, wie enttäuscht er vor einigen Wochen gewesen war, als er denselben Text gelesen hatte. Heute war er ausgeschlafen, und alles schien gut zu sein. Er freute sich jetzt auch wieder auf das Mensaessen mit Anne, mehr noch auf das, was dem Essen folgen sollte.
Das Telefon klingelte. Er nahm ab, hörte die Stimme, und seine Laune verschlechterte sich. »Kannst du vielleicht mal einen Augenblick vorbeischauen, Josef? Wenn es dich nicht stört.«
Er war versucht zu antworten, ihn habe nur gestört, dass das Telefon geklingelt habe. Aber er sagte: »Natürlich, ich komme.« Was wollte Bohming von ihm?
Der Ordinarius saß behäbig hinter seinem Schreibtisch. »Schön, dass du Zeit hast.« Natürlich verlangte Bohming, dass seine Sklaven am Institut immer Zeit hatten für ihn. Dass sie geradezu danach lechzten, von ihm angesprochen zu werden. Es sei denn, es handelte sich um Unangenehmes. Darum handelte es sich in diesem Fall, das konnte Stachelmann der betrübten Miene des Professors ablesen. Bohming zeigte auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Hätte er Stachelmann einen Sessel in der Sitzecke angeboten und sich dazugesetzt, wäre es ein eher angenehmes Thema gewesen, jedenfalls für Bohming, der voraussetzte, was für ihn erfreulich sei, müsse auch für seine Assistenten erfreulich sein. »Bist du denn jetzt darüber hinweggekommen?«
Stachelmann schaute ihn erstaunt an. Dann strichen seine Augen über die Rücken der Zeitschriften und Bücher im Wandregal. Fast alle waren ungeknickt, also ungelesen. Was trieb Bohming eigentlich? Dass er andere für sich recherchieren ließ, das war bekannt und ließ sich nicht verheimlichen. Aber dass er gar nichts mehr tat, mochte Stachelmann nicht glauben. Ein Historiker ist neugierig, sonst wäre er keiner. Es gab wohl Ausnahmen. Wie war Bohming früher gewesen, als er noch nicht Professor war?
»Du weißt doch, diese Sache mit Griesbach.«
»Ja, natürlich.« Das war schon eine Weile her. Nachts träumte er oft schlecht, da geisterte Griesbachs Leiche herum. Aber am Tag dachte er selten daran.
»Vielleicht lässt sich absehen, wann du mit deiner Arbeit ...« Er schaute an Stachelmann vorbei und führte den Satz nicht zu Ende. Seine Hände spielten mit einer Buddhastatuette aus Messing, sie war an einigen Stellen blank gescheuert.
»Ich bin dabei. Gerade, als du angerufen hast.« Es hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, Bohming zu duzen.
»Ich frage nur, weil mich gestern der Dekan auf dem Gang darauf angesprochen hat. Alle sind gespannt auf deine Arbeit.«
Auch die Erwartung der anderen ängstigte Stachelmann, bestärkte ihn in seinen Selbstzweifeln. Du musst das jetzt hinter dich bringen. Aber da war noch die Sache mit Ossi. Gut, das konnte er abends klären, wenn es da was zu klären gab. Und Heidelberg? Eine Woche Heidelberg durfte er sich gönnen. Er würde die Arbeit mitnehmen und sich abends freigeben. Schweden mit Anne? »Ich
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