Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
Seminaren waren ihr auf die Nerven gegangen. Verrenkungen mit weniger Wirkung als der Furz eines Kanarienvogels. Stachelmann musste lachen, leise nur. Wie hieß sie? Katharina, genannt Kathrin, mit einer roten Mähne, etwas dunkler als Ossis Haare. Und der wurde verspottet wegen ihr. Einmal rot, das sei gerade noch erträglich, aber das Doppelrot lasse einen erblinden.
Das Telefon klingelte. Er nahm ab, sah im Display Annes Nummer und hätte fast aufgelegt. Er tat so, als wüsste er nicht, wer anrief, und meldete sich mit »Stachelmann«.
»Tut mir Leid«, sagte Anne. »Ich war ein bisschen grob.«
»Kein Problem«, sagte er kühl.
»Dann ist ja gut.« Ihre Stimme sagte: Ich glaube dir nicht. »Aber du musst verstehen, das kam überraschend. Ich hatte mich so gefreut auf unseren ersten gemeinsamen Urlaub.«
»Ich doch auch. Aber was soll ich machen? Beklag dich beim Sagenhaften.«
Sie schwieg eine Weile, dann sagte sie: »Das ist nicht alles, Josef. Die Kurzfassung könnte lauten, du bist nicht als Familienvater geboren. Ich frage mich, seit einiger Zeit schon, wie wir das hinkriegen sollen.«
»Lass uns nach dem Urlaub darüber reden, ich muss noch nachdenken.«
»Das ist auch typisch«, sagte sie sanft. »Du redest nicht darüber, sondern grübelst vor dich hin, um eine Antwort zu finden. Vielleicht wäre es einfacher, wir sprechen darüber, und dann kannst du immer noch deine Schlüsse ziehen.«
Diesmal schwieg er.
»Na gut, kommst du morgen ans Seminar?«
Er hatte darüber nicht nachgedacht. »Eigentlich wollte ich zu Hause arbeiten«, sagte er nach einer Pause.
»Du meldest dich, wenn du wieder auftauchst.«
»Ja, natürlich.«
Sie legte auf.
Er saß eine Weile wie erstarrt auf dem Schreibtischstuhl. Dann fuhr er sich durch die Haare und verzog das Gesicht. Er fragte sich, was ihn mehr bedrängte: wenn sie böse auf ihn war, oder wenn sie sich sanft gab. Das Sanfte richtete sich an sein Gewissen, er fühlte sich ertappt. Dabei tue ich nichts Unrechtes, sondern versuche nur zu überleben. Das ist schwer genug, und man muss es mir nicht schwerer machen. Sein Fehler war, sich auf diesen Urlaub überhaupt eingelassen zu haben. Er hatte es getan, als der Urlaub noch fern lag, weil er sie nicht enttäuschen wollte. Damals war es auch anders gewesen mit Anne, manchmal so, als wollten sie nachholen, was sie all die Jahre versäumt hatten. Erst seit Ossi tot war, dachte er darüber nach.
Wie hieß Ossis Heidelberger Freundin mit Nachnamen? Weigand, nein, Wiegand. Katharina Wiegand. Er schaltete den Computer ein, wartete, bis der gebootet hatte, und gab dann den Namen in die Suchmaschine ein. Knapp fünfzig Treffer. Er fügte »Heidelberg« hinzu in der Suchzeile. Es blieb ein Treffer. Da stand eine Katharina Wiegand, Pressesprecherin eines Wissenschaftsverlags, dessen Namen Stachelmann kannte. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Richtige war? Gering. Aber wenn er es einfach versuchte? Jetzt würde er sie im Büro nicht erreichen. Also gab er ihren Namen im Online-Telefonbuch ein. »K. Wiegand«, den Eintrag gab es nur einmal. Er schaute zum Telefon und sah den Anrufbeantworter blinken. Er hörte ihn nicht ab. Aber es fiel ihm ein, er hatte wieder vergessen, seine Mutter anzurufen.
Was hinderte ihn daran? Der Streit mit dem Vater kurz vor dessen Tod. Er fühlte sich schuldig, er hatte das Gespräch abgebrochen, weil er die Lebenslügen nicht ertrug. Lebenslügen, die für seinen Vater Wahrheiten gewesen waren. Der Vater war verzweifelt, weil er sich und seine Zeit nicht wieder erkannte in der Wahrnehmung seines Sohnes. Es waren unvereinbare Welten, und Stachelmann hatte es aufgegeben, eine Brücke zu suchen zwischen ihnen. Er sah sich im Recht, das schlechte Gewissen hatte keinen sachlichen Grund. Warum redest du dir immer wieder ein schlechtes Gewissen ein?
Wie um auf andere Gedanken zu kommen, wählte er die Heidelberger Nummer. Es klingelte lange, gerade als er auflegen wollte, knackte es.
»Ja?«
»Stachelmann, entschuldigen Sie bitte die Störung ...«
»Bist du es, Jossi!?«
»Ja.«
»Das ist ja nett, wenn auch ein bisschen spät. Wo bist du?«
»In Lübeck.«
»Ach, da oben.«
»Ich komme bald nach Heidelberg.«
»Dann müssen wir uns sehen, unbedingt!«
Jetzt erkannte er ihre Stimme wieder. Sie sprach einen gemäßigten kurpfälzischen Dialekt, weich, etwas nasal. »Gerne«, sagte er.
»Und wie geht es Ossi? Der wohnt doch in Hamburg. Ihr seht euch ja hin und wieder. Als
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