Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
weg, bevor Stachelmann etwas sagen konnte.
In der Wohnung zog er trockene Kleidung an, dann setzte er sich missmutig an den Schreibtisch. Zuerst dachte er, er sollte seine Mutter anrufen. Der Anrufbeantworter blinkte. Aber dann versank er in seinem Trübsinn. Es war doch alles sinnlos. Was er tat, verursachte nur neue Enttäuschungen für ihn und für andere. Was geschah zwischen Carmen und ihm? Es war abwegig. Sie hängte sich in ihrer Trauer an ihn, ausgerechnet an ihn, als hätte er nicht genug am Hals. Sie gefiel ihm, aber wenn er sich mit jeder Frau einließe, die ihm gefiel – eine lächerliche Vorstellung. Du wirst noch zur späten Kopie des schönen Kugler von den Politologen, der alle Frauen anbaggerte, die nicht bei drei auf dem Baum waren. Er musste schmunzeln, als er an Kugler dachte. Dem musste er doch dankbar sein, seit er Stachelmann befreit hatte von Alicia, die so schön wie verrückt war. Die sogar einen Freitod vorgetäuscht hatte, um Stachelmann zu beeindrucken. Oder hatte sie den gar nicht vorgetäuscht? Das war schon so lange her, Kugler und Alicia hatte Stachelmann schon lange nicht mehr gesehen. Er stellte sich vor, wie sie als glückliches Paar in einem kleinen Haus mit zwei bildschönen Kindern vor sich hin lebten. Also das taten, was Stachelmann niemals vergönnt sein würde.
Einen Augenblick versuchte er sich vorzustellen, Ossi habe sich gar nicht umgebracht. Dann könnte er ihn anrufen und fragen, ob diese Sammlung von Flugblättern und Zeitungsartikeln einen Sinn hatte. Oder ob Ossi in diese Akte hineingepackt hatte, was aus dieser Zeit herumlag bei ihm. Warum hast du nichts gesagt, du Idiot? Du kannst doch nicht einfach den Abgang machen, ohne was zu sagen. Du warst schon immer ein Egoist, mein Bester. Du hast mich beschützt am Anfang, gewiss. Aber habe ich deinen Schutz gebraucht? Hast du nicht eher das Gefühl gebraucht, dass alle dich für einen tollen Hecht halten, weil du auf den Neuen aufpasst? In Wahrheit hat mich niemand bedroht, Ossi. Gut, einmal, da hätten mich die Rechten fast verprügelt, und du bist dazwischengegangen. Aber sonst hast nur du mich bedrängt, du wolltest immer das Sagen haben, im Großen und im Kleinen. Du musstest immer kandidieren, wahrscheinlich schon im Kindergarten, dann Klassensprecher, dann Schülersprecher, dann in den AStA, Vorsitzender unserer Gruppe, Chefredakteur dieses Kampfblättchens, geleitet hast du auch die Fachschaftsvertretung der Jurastudenten – eine Leistung, waren das doch Mustersöhnchen oder »Büttel der Klassenjustiz«, wie du gesagt hast. Und das hast du nicht nur witzig gemeint. Wann hast du eigentlich studiert, Ossi, bei all der Vortanzerei? Bist du nach Marburg gegangen, weil du vor uns verbergen wolltest, wie du scheitertest? Weil dein Ego dich überfordert hat? Weil dich deine Angeberei gehindert hat zu studieren?
Aber irgendetwas muss mich an ihn gebunden haben. Vielleicht weil ich dankbar war. Da hat jemand für mich gesprochen. Gut, er hat es auch noch getan, als es nicht mehr nötig und eine Bevormundung war. Einmal hatten wir uns deshalb sogar gestritten. Aber am Anfang, in dieser neuen Umgebung, unter diesen Leuten, die mir so unendlich überlegen erschienen, da hat es mir gut getan, dass mir einer alles erklärt hat. Aber war da sonst nichts, was mich verband mit Ossi?
Er schloss die Augen und mühte sich, Bilder zurückzuholen. Wie Ossi neben ihm saß in der Gruppensitzung im CA. Wie er hinausging und mit zwei Flaschen Bier zurückkehrte, von denen er eine vor Stachelmann stellte, obwohl der nicht darum gebeten hatte. Wie Ossi anfangs antwortete, wenn Stachelmann gefragt wurde. Wie andere sie verspotteten als die »Heidelberger Zwillinge«, fester zusammengewachsen noch als siamesische.
Hatte Ossi damals eine Freundin? Ja, da war etwas gewesen, aber Stachelmann hatte nur die letzte Zeit miterlebt, als es auseinander ging, ohne dass Ossi getrauert hätte. Er hatte sich jedenfalls nichts anmerken lassen und natürlich verkündet, er habe der Dame den Laufpass gegeben. Stachelmann wusste, es war anders gewesen. Einmal, vor der Trennung, da hatte Ossi ihm sein Leid geklagt. Es gebe einen anderen. Sie empfinde Ossi als unreif, eine größere Kränkung hätte sie ihm kaum antun können. Auch politisch seien sie verschiedener Meinung gewesen, sie habe diese ewigen Demos, Blockaden und Flugblattaktionen lächerlich gefunden. Vollversammlungen, die alles Mögliche waren, nur nicht voll. Und die politischen Ansagen in
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