Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
ihn nun, er möge das Zimmer verlassen. »Der Oberarzt kommt gleich.«
Stachelmann nahm seine Mutter kurz in den Arm und hatte das Gefühl, es sei das letzte Mal. Dann ging er, ohne ein Wort zu sagen. Im langen Flur mit vielen Türen überlegte er, wie es ist, wenn man weiß, dass man die letzte Station erreicht hat. Draußen schlug ihm ein kühler Wind entgegen, und Stachelmann schien es, als könnte er die Nordsee riechen. Er fuhr mit dem Auto zum Von-Melle-Park und fand erstaunlicherweise gleich einen Parkplatz.
Bis zu seinem Seminar hatte er noch Zeit. Er kopierte die Textdatei vom Notebook auf den PC und machte sich an die Arbeit. Kaum hatte er sich eingelesen, öffnete sich die Tür mit einem Klopfen, und Renate Breuer stand in der Türöffnung. Sie hatte ein Papier in der Hand. »Ich hätte da noch eine« – sie stockte – »Anregung.«
Stachelmann hob den Arm und sagte: »Nein.« Er war zu laut geworden, es steckten Wut und Traurigkeit in ihm, und die bekam die Sekretärin nun ab. Die Tür war schon zu, als er es bedauern wollte. Einen Augenblick wollte er ihr nachlaufen, aber er blieb sitzen. Vielleicht ist es gut so. Sie wird eine Weile beleidigt sein, aber ihm nicht mehr nachstellen mit diesen idiotischen Ratschlägen. Die waren gut gemeint, aber wie so viel Gutgemeintes nicht gut, sondern nervig.
Er brachte die letzte Sitzung seines Seminars vor den Semesterferien lustlos hinter sich und fuhr nach Hause. Anne hatte sich nicht blicken lassen. Er fürchtete, Olaf könnte ihm erneut auflauern, aber der war nicht da und meldete sich auch den ganzen Abend nicht. Stachelmann bearbeitete einige Seiten, dann drängte sich eine Idee auf. Er hatte Regines Telefonnummer, er würde nach Heidelberg fahren, bald schon, und da sollte er sich ankündigen. Stachelmann fand den Zettel mit der Nummer und starrte ihn eine Weile an. Er schaute auf die Uhr, es war nicht zu spät. Er wählte die Nummer. Sie hob nach dem dritten Klingeln ab.
»Ich hatte mit deinem Anruf gerechnet«, sagte sie, nachdem sie seinen Gruß zögernd erwidert hatte.
»Wie das? Hat Kathrin dir was erzählt?«
»Nein, aber Ossi. Er sagte, du würdest mich bald anrufen.«
»Wie kommt der dazu?«
»Weiß nicht, frag ihn.«
»Das kann ich nicht. Er ist tot.«
* * *
4. Juni 1978
Habe den Nachmittag am Neckar gesessen. R. kam vorbei, wir haben die Perspektiven der Revolution besprochen. International sieht es gut aus, aber hier in Westdeutschland glauben die Massen immer noch dem Schmidt und Konsorten. Modell Deutschland! Geschickt erhebt der Faschismus wieder sein Haupt. Er gibt sich modern, weltoffen. Aber wenn man genau hinhört und wenn man genau liest, hört und liest man da nicht »Am deutschen Wesen soll die Welt genesen«? So fing es damals auch an, und der Nazi-Oberleutnant belehrt im knarrenden Offizierskasinoton den Rest der Welt. Warum begreifen die Massen das nicht? Wann ziehen sie endlich die Lehren aus dem Hitler-Faschismus? Manchmal, ich gebe es zu, bin ich am Verzweifeln. Aber es bleibt mir keine Wahl. Immer weiter, immer weiter.
Die Herrschenden haben die Klassenauseinandersetzungen des letzten Jahres gut überstanden. Wir müssen das zugeben, sonst kriegen wir keine genaue Analyse hin. Die liberalen Sülzer nennen es den »deutschen Herbst«, sie betrauern den SS-Schleyer, wir betrauern unsere ermordeten Genossen. Natürlich hat die RAF die falsche Strategie, abgehoben von den Massen. Aber es sind doch Genossen (?), deren Konsequenz wir bewundern müssen.
In der Sache mit L. ist es ruhig geworden. R. sagt, sie warten, bis wir uns in Sicherheit wiegen und was rauslassen. Aber das wird nicht passieren. Auf den Faulen Pelz oder die Isolationsfolter in Stammheim habe ich keine Lust. Wäre aber im Ernstfall bereit, das durchzustehen, bis sie auch mich ermorden müssen. Ich würde es jedenfalls versuchen.
Nachher treffe ich Angelika. Zum ersten Mal »offiziell«. Ich habe sie gefragt, ob sie mit mir was trinken gehen will, erst in den Weißen Bock, dann vielleicht irgendwo am Fischmarkt. Und dann ...
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7
Der eine hielt ihn von hinten fest an den Oberarmen, der andere schlug. Erst ins Gesicht, dann in den Magen. Zunächst spürte Stachelmann jeden Schlag, dann nur noch Schmerzen. Er konnte die beiden nicht erkennen, es war dunkel, aber er roch die Fahne des Mannes, der schlug. Die beiden sagten nichts, Stachelmann schwieg vor Schreck. Als gegenüber Licht anging und ein Fenster sich öffnete, hörte der Mann auf, ihn
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