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Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)

Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)

Titel: Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian V Ditfurth
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die Haustür. Er ging zum Schreibtisch im Wohnzimmer, setzte sich auf den Stuhl und blätterte in Ossis Akte. Als wieder der Artikel mit dem unterstrichenen »nie« vor ihm lag, kam ihm der Gedanke, vielleicht könne die Polizei die Tinte untersuchen und feststellen, wann Ossi das Wort unterstrichen hatte. Aber was würde es bedeuten, wenn er das vor kurzem oder vor Jahren getan hatte? Wahrscheinlich bedeutete die Unterstreichung sowieso nichts. Du bist verrückt, aus einem kleinen Strich unter drei Buchstaben fabrizierst du einen Zusammenhang, für den es in Wahrheit nicht einmal ein halbes Indiz gibt. Was zeigt der Strich? Dass Ossi sich irgendwann mit der Sache beschäftigt hat. Er hat darüber nachgedacht, wie jeder darüber nachdenken würde, der einen solchen Artikel liest. Unaufgeklärte Morde verunsichern einen. Es laufen welche herum, die einen Menschen getötet haben. Möglich, dass man so einen trifft. Aber man erkennt sie nicht, und sie haben keinen Grund, einem etwas zu tun. Was steht fest? Ossi starb auf dem Schreibtischstuhl, sein Kopf lag auf der Akte, in welcher sich ein Artikel über den Thingstättenmord befindet. In diesem Artikel ist das Wort »nie« unterstrichen, wie um zu betonen, das Verbrechen sei nicht aufgeklärt. Es kann also sein, dass Ossis Tod etwas zu tun hat mit dem Thingstättenmord. Nur wenn du diesen Zusammenhang jemandem vorträgst, der etwas versteht von polizeilicher Ermittlung, wird der dich für bescheuert halten. Und dies zu Recht. Denn aus den Tatsachen ließen sich mit gleicher oder größerer Wahrscheinlichkeit andere Schlüsse ziehen. In Wahrheit geht es dir darum, nach Heidelberg zu fahren. Seit Ossi tot ist, zieht es dich dorthin. Aber Ossis Tod ist nicht der Grund, er hat dich nur darauf gestoßen. Du hast Fragen zurückgelassen in Heidelberg. Sie rücken dir näher, je älter du wirst. Möglicherweise bist du dabei, zu vergreisen, schon scheint dich deine Zukunft weniger zu interessieren als deine Vergangenheit. Wenn es anders wäre, würdest du in den kommenden Wochen nichts anderes tun, als deine Habilarbeit abzuschließen.
    In den Nächten schlief er schlecht, die Schmerztabletten wirkten kaum. Tagsüber saß er an der Arbeit. Auch am Samstagvormittag versuchte er voranzukommen. Aber es gelang ihm nicht viel. Bald saß er da und dachte an Ossis Beerdigung. Er fand im Schrank den Anzug, in dem er schon seinen Vater beerdigt hatte, zog ihn an, dazu den schwarzen Schlips. Viel zu früh fuhr er mit der Bahn zum Hauptbahnhof. Er nahm die S 1 nach Poppenbüttel und stieg in Ohlsdorf aus. Am Haupteingang zeigte ihm ein Schild den Weg zum Krematorium, daneben das Ehrenmal für KZ-Opfer. Stachelmann sah die Gruppe gleich, darunter einige Uniformträger. Zuerst erkannte er Taut, den Anzug und Mantel besonders fett aussehen ließen. Etwas abseits stand Ossis geschiedene Frau mit ihren zwei Kindern, auch sie in Schwarz. Carmen stand am anderen Rand der Gruppe. Dann mussten sie ein Stück laufen zu einer Kapelle.
    Ein Beerdigungsredner hielt so etwas wie eine Predigt. Stachelmann hätte am liebsten Carmen gefragt, ob sie den Schwätzer engagiert hatte. Wahrscheinlich war es die Exfrau gewesen, die saß jedenfalls vorn mit den Kindern, wo der Sarg aufgebahrt war, bedeckt mit der hamburgischen Landesflagge, davor Kränze mit goldbeschrifteten Schleifen. Carmen hatte sich zwischen ihren Kollegen in einer hinteren Reihe versteckt. Stachelmann fand nur einen Platz hinter ihr. Als der Schwätzer fertig war mit seinem Sermon über den Dienst am Bürger und den Sinn des Lebens, der vielen verdüstert werde in diesen Zeiten, verließ die Gruppe die Kapelle und wartete auf den Sarg mit den Trägern. Stachelmann näherte sich Carmen, tippte ihr auf die Schulter, und als sie ihn anschaute, sagte er: »Ich gehe jetzt. Das ertrage ich nicht.« Fast hätte er gesagt: Das hat er nicht verdient.
    Sie zuckte mit den Achseln, Tränen standen in ihren Augen. Dann nickte sie und wandte sich ab. Er hoffte, sie würde ihn verstehen.
    Erst am Sonntagnachmittag verschwand seine Niedergeschlagenheit, und er konnte wieder arbeiten. Wenn er so weitermachte, würde er in zwei Wochen fertig sein. Eigentlich könnte ich mit nach Schweden, aber dazu ist es zu spät. Und ich will nicht. Dann fiel ihm ein, es würden ihn in der zweiten Hälfte der Arbeit wahrscheinlich größere Schwierigkeiten erwarten. Er entsann sich, einige Fragen unbeantwortet gelassen zu haben. Das Gefühl, das er für Zufriedenheit

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