Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
ich nicht woanders hinziehen soll, in den Norden etwa, wo es kühler ist und nicht so schwül. Aber in meinem Alter ...« Sie ließ den Satz unvollendet. Im Flur war es angenehm, Stachelmann spürte einen schwachen Luftzug. An den Wänden hingen große gerahmte Schwarzweißfotos. Zwei zeigten Heidelberger Ansichten, das von den Franzosen zertrümmerte Schloss und ein Blick von oben auf die Karl-Theodor-Brücke.
Die Dame führte ihn ins Wohnzimmer. Ein riesiges Fenster zeigte ein Panorama des Schlosses, darunter die Altstadt. Stachelmann erkannte das Palais Boisserée, das Rathaus, den Marktplatz, wo er mittags gesessen hatte.
Das Wohnzimmer war schlicht möbliert, fast im Bauhausstil. Es gefiel ihm auf Anhieb, die Dame hatte Geschmack und offenbar Geld.
»Ich sitze oft den Abend hier« – sie deutete auf ein Sofa, von dem aus man durch das große Fenster hinunterblicken konnte – »und beobachte die Lichter. Dann stelle ich mir vor, was die Menschen machen in den Zimmern, in denen das Licht angeht, und in den Zimmern, in denen es erlöscht. Jeden Werktag ist es das Gleiche, im Winter, wenn es lange dunkel ist, fällt es einem noch stärker auf. Es ist ein Rhythmus, tagaus, tagein. Die meisten Menschen tun immer das Gleiche. Sie wachen zur gleichen Uhrzeit auf, sie frühstücken das Gleiche, fahren auf demselben Weg mit derselben Bahn oder demselben Auto zur Arbeit, machen die gleiche Arbeit wie am Tag zuvor, machen um die gleiche Zeit Mittagspause, fahren um die gleiche Zeit nach Hause, essen um die gleiche Zeit zu Abend, stellen zur gleichen Zeit das Fernsehgerät ein, gehen zur gleichen Zeit ins Bett. Freiheit ist das nicht, das ist eher ein Leben nach Fahrplan, finden Sie nicht auch? Ach, ich wollte Ihnen doch einen Tee einschenken.« Ihm fiel auf, sie sprach Hochdeutsch ohne Eintrübung. Er hätte nicht sagen können, woher sie stammte. Und sie hatte eine feste Stimme, nicht brüchig, wie man aufgrund ihrer schwach erscheinenden Statur und ihrer dünnen weißen Haare hätte vermuten können.
Die Dame stand auf, ging aus dem Zimmer und kam mit einer Teekanne und einer Tasse zurück. Sie schenkte ihm ein, bot ihm Zucker und Milch an, auf die er aber dankend verzichtete.
»Sie sind also Historiker«, sagte sie.
»Ja, Historiker ohne Fernsehgerät«, erwiderte er.
Sie lächelte fein. »Dann leben Sie also nicht nach Fahrplan.«
»Nein, manchmal bedaure ich es. Ein Rhythmus erspart einem einiges.«
Sie nickte.
»Entschuldigen Sie bitte den Überfall«, sagte Stachelmann. »Und auch meine Frage. Ihr Mann war Fotograf bei der Rhein-Neckar-Zeitung?«
»Er hat hin und wieder für die Zeitung fotografiert oder ihr Bilder angeboten, wenn er welche geschossen hatte, von denen er glaubte, sie könnten die RNZ interessieren. Er hat aber auch fürs Tageblatt gearbeitet. Immer als Freiberufler.«
Stachelmann fragte sich, wie ein freiberuflicher Fotograf sich ein so stattliches Haus in teurer Wohnlage und eine solch erlesene Einrichtung leisten konnte. Er bedachte seine Lage, er fühlte sich arm und schlecht behandelt. War ein Historiker weniger wert als ein Fotograf? Dann lächelte er über seine Dummheit. Wäre er ein erfolgreicher Historiker, könnte er sich auch einiges leisten. Aber er würde es nicht tun, es war ein Neid ohne Gegenstand.
Sie schaute ihn freundlich an, während sein Hirn auf Abwegen war.
»Ich war bei der Rhein-Neckar-Zeitung, um Fotos zu sichten über die letzten Jahre der Studentenunruhen in Heidelberg, 1976 bis . Da habe ich auf der Rückseite mancher Fotos den Namen Ihres Mannes gelesen.«
Sie nickte. »Er hat viel fotografiert, gerade diese Sachen. Er war ja zuerst gegen diese Revoluzzer, fand sie lächerlich, Karikaturen der Weimarer Zeit. Studenten, die noch nichts begriffen hatten, beanspruchten, aller Welt alles erklären zu können, und ernannten sich selbst zu Führern. Er hat sich da oft ziemlich aufgeregt über diese Selbstgerechtigkeit. Und wie man die alten Leute als Nazis beschimpft hat. Für die war jeder ein Nazi, den Hitler in eine Uniform gesteckt hatte. Sie haben es sich so einfach gemacht in ihrer Unschuld, für die sie so wenig konnten wie die meisten für ihre Schuld im Dritten Reich. Die ist uns aufgeladen worden von diesen Verbrechern.«
Stachelmann erinnerte sich an den Streit mit seinem Vater, der im Krieg zum Hilfspolizisten gemacht worden war und Bombenräumkommandos aus Sträflingen bewacht hatte. Da kam ihm diese Dame viel klarer vor. Sie hatte einen
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