Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
warten besser, bis Frau Brettschneider zurück ist.«
Stachelmann spürte Hunger und entschloss sich, etwas zu essen. Natürlich hatte er Angst hinauszugehen. Nein, niemand verprügelt dich am Tag auf der Hauptstraße. Du musst dir beweisen, dass du die Angst überwinden kannst, sonst wächst sie. Er verließ das Gebäude der RNZ und lief die Hauptstraße hinunter in Richtung Rathaus. Immer wieder blieb er stehen und schaute sich um. Vor dem Marktplatz standen unzählige Tische und Stühle, die meisten besetzt von Touristen. Er fand einen freien Platz im Schatten. Die Mittagshitze im Neckardunst war aber auch hier kaum auszuhalten. Er schwitzte, ohne einen Finger zu rühren. Er bestellte eisgekühltes Mineralwasser und ein Käsebaguette, Hauptsache nichts Warmes. Es zog ihn bald zurück zur RNZ. Unterwegs fand er ein Optikergeschäft und kaufte eine Lupe. Und wieder sicherte er nach allen Seiten.
Das Fotoarchiv war abgeschlossen. Also musste er hinauf zur Lokalredaktion. Frau Brettschneider telefonierte gerade, als Stachelmann nach kurzem Anklopfen die Tür öffnete. Sie schaute ihn böse an und sprach weiter. Stachelmann lehnte sich an die Wand neben der Tür und wartete. Frau Brettschneiders Kollegin hackte unverdrossen auf ihrer Tastatur und schenkte ihm keinen Blick. Frau Brettschneider legte auf, dann sagte sie mit tonloser Stimme: »Sie haben nicht abgeschlossen.«
»Ich hatte keinen Schlüssel.«
»Sie haben gesagt, Sie würden im Zimmer bleiben.«
»Ich hab's mir anders überlegt. Wer sollte da schon klauen? Könnten doch nur Ihre Kollegen sein.«
Sie warf ihm einen giftigen Blick zu. »Das ist eine Prinzipienfrage.«
»Gut«, sagte er, »dann entschuldige ich mich. Jetzt möchte ich gerne weiterarbeiten.«
»Also, am liebsten würde ich Sie nicht mehr hineinlassen ...« Sie erhob sich, schnappte ihren Schlüsselbund vom Schreibtisch und rauschte an ihm vorbei. Er mühte sich, ihr zu folgen. Unten angekommen, schloss sie laut auf, öffnete die Tür, schaute ihn grimmig an und ging.
Stachelmann setzte sich wieder an den Tisch, niemand schien im Raum gewesen zu sein, während er abwesend war. Er betrachtete noch einmal Lehmanns Bild. Dann suchte er in der Schachtel nach Fotos von Menschengruppen aus der Zeit vor dem Thingstättenmord: Demonstrationen, Kundgebungen, Versammlungen. Solche Fotos legte er auf einen Stapel neben das Porträt. Es handelte sich nur um ein knappes Dutzend Fotos. Unter der Lupe glich er die Gesichter, die erkennbar waren, mit Lehmanns Porträt ab. Es war eine anstrengende Arbeit, immer wieder machte er eine Pause. Er hatte es nicht eilig, lieber langsam, aber gründlich. Diesen oder jenen glaubte er wieder zu erkennen, meist langhaarige junge Männer in Jeans. Hier und da militärisch frisierte Kader maoistischer Sekten. Auf keinem Foto aber sah er Lehmann, auch wenn er in einem Fall zweifelte. Büchertisch vor der Marstallmensa, dahinter fünf Männer, eine Frau. Nein, das war er nicht.
Er drehte die Fotos um und las auf den meisten den Copyright-Vermerk »RNZ/Schmelzer«. Er schrieb es sich auf, packte die Fotos zurück in die Schachtel, stellte diese ins Stahlregal, verließ den Raum, schloss die Tür und stieg die Treppe hoch zur Lokalredaktion. Im Zimmer von Frau Brettschneider bot sich das gewohnte Bild. Die Kollegin tippte, Frau Brettschneider las in einem Papier. Sie hob den Blick. »Fertig?«
»Im Prinzip ja«, sagte Stachelmann. »Ich würde gerne mit Herrn Schmelzer sprechen.«
Fast hätte Frau Brettschneider gelacht, aber sie unterdrückte es. »Der ist schon lange tot.« Sie sagte es in einem Ton, in dem ihre Befriedigung mitklang, ihm nicht helfen zu können.
Stachelmann ärgerte sich, aber er ließ sich nicht abwimmeln. »Hat er Familienangehörige, eine Frau oder Kinder?«
Sie zuckte die Achseln.
»Aber Sie können mir gewiss seine letzte Anschrift geben.«
Sie zögerte, dann sagte sie: »Warum nicht? Steht ja im Telefonbuch.« Sie blätterte in einer Adresskartei, zog eine Karte heraus und schrieb etwas auf einen Zettel. Den reichte sie Stachelmann, ohne ihn anzusehen. Der schaute drauf, sah, es war eine Adresse, bedankte sich und ging.
Auf der Straße traf es ihn wie ein Schlag. Feuchte Hitze stand im Neckartal. Fast hätte ihn eine Gruppe japanischer Touristen umgerannt, die aufgeregt versuchten, den richtigen Standort zu finden für ihre Fotos. Es war ein furchtbares Gedrängel. Stachelmann setzte sich in ein Café, das mit einer Klimaanlage Besucher
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