Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
Platz. Die nächste Schachtel enthüllte Schmelzers Vorliebe für Nacktfotos, aufgenommen in einem Studio, auf dem Rücken der Abzüge keine Beschriftung. Stachelmann schloss die Schachtel und griff nach der nächsten. Die Schachtel fiel auf den Boden, öffnete sich und gab Negativstreifen und wenige Papierabzüge frei. Stachelmann fluchte leise vor sich hin, während er die Streifen und die Abzüge aufhob.
Er setzte sich wieder hin und betrachtete die Abzüge. Er spürte den Rückenschmerz, der stärker wurde, je länger er auf dem Stuhl saß. Bald begann er abzustrahlen auf die Hüfte und die Knie. Stachelmann stand auf, beugte sich, bewegte seinen Körper, es half wenig. Wenn der Schmerz ihn einmal gepackt hatte, war es kaum möglich, ihn loszuwerden. Er fand in der Jacketttasche eine Diclofenac, schluckte sie und hoffte, die Wirkung setzte bald ein. Stehend betrachtete er die Aufnahmen auf dem ersten Negativstreifen. Mithilfe der Lupe erkannte er einiges, es waren Aufnahmen der Berliner Mauer und von Ostberlin.
So durchsuchte er eine Schachtel nach der anderen, bis er endlich auf die Fotos stieß, die er suchte. Hätte er rechts unten angefangen, dann wäre er längst fertig gewesen. Es waren wenige Papierzüge und zahlreiche Negativstreifen. Mit der Lupe erkannte er Demonstrationen in der Hauptstraße, der Plöck und Kundgebungen auf dem Bismarckplatz. Aber im Negativ waren keine Personen zu erkennen. Er hatte keine Wahl, die Negative mussten entwickelt werden.
Es waren drei Schachteln mit einigen hundert Aufnahmen. Er trug sie nach oben, Frau Schmelzer saß im Wohnzimmer und las in der RNZ. Sie hob den Kopf und lächelte, als sie Stachelmann sah.
»Oh, Sie sind fündig geworden.«
»Ja, es sind viele Negative. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich sie mitnehme und die heraussuche, bei denen sich die Entwicklung vielleicht lohnt?«
Sie überlegte kurz, dann sagte sie: »Nein, nehmen Sie sie mit. Sie bringen sie ja zurück, nicht wahr? Und die Papierabzüge, die Sie nicht benötigen, könnten Sie mir die schenken?«
Stachelmann willigte ein, Frau Schmelzer holte große Papierumschläge, worin sie die Negative verstauten. Dann verabschiedete er sich und versprach wiederzukommen.
»Beim nächsten Mal erzählen Sie, warum Sie die Fotos brauchen, nicht wahr?«
Er versprach auch dies und eilte zurück zum Hotel, während seine Hand den Griff der an einem Riemen über der Schulter hängenden Aktentasche umklammert hielt, als fürchtete er, einen Schatz zu verlieren. Den Besuch im Uniarchiv vertagte er.
Verschwitzt erreichte er das Hotel, fuhr im Aufzug in den dritten Stock, warf die Aktentasche aufs Bett und nahm eine kalte Dusche. Dabei fiel ihm ein, dass er auf dem Rückweg keine Angst gehabt hatte. Er hörte erst auf zu duschen, als er zu frieren begann. Dann trocknete er sich ab, zog frische Kleidung an und leerte den Inhalt der Aktentasche auf dem Bett aus. Er griff einen Umschlag, öffnete ihn und legte die Negative auf den kleinen Schreibtisch. Er hielt sie gegen das Fensterlicht und versuchte mit der Lupe Einzelheiten zu erkennen. Negative, die Menschenansammlungen zeigten, sammelte er auf dem Kopfende, die anderen schob er zurück in den Umschlag. Er saß bis spät in die Nacht und nutzte bald die Schreibtischlampe, während es draußen dunkel wurde.
Da fiel ihm ein, er musste seine Mutter anrufen. Aber um halb elf war es zu spät. Morgen würde er es tun, bestimmt. Vielleicht siehst du sie nie wieder. Und dann wirst du dir Vorwürfe machen.
Stachelmann putzte sich die Zähne, wusch sich, schluckte eine Schmerztablette und legte sich ins Bett. Er versuchte, eine Schlafposition zu finden, die ihm am wenigsten Schmerzen bereitete. Er dachte an die Negative, die auf dem Tisch lagen. Vielleicht bargen sie die Antwort auf die Frage, ob Ossi sich umgebracht hatte oder ob er ermordet worden war. Carmen hatte sich nicht gemeldet, das bedeutete, die Kripo in Hamburg glaubte weiter an Freitod. Er würde sie morgen anrufen. Irgendwie passte sie nicht zu Ossi, sie war zu munter für ihn, der längst zum Zyniker geworden war. Damals, bei den Kindesmorden im Holler-Fall, da hatte er die Haltung abgelegt, aber danach war er wieder der Alte geworden, jedenfalls gab er sich abgebrüht. Womöglich kann man in der Mordkommission nur arbeiten, wenn man sich eine Haltung zulegt, die einen gegen das Böse schützt, indem man unterstellt, dass es ohnehin die Welt beherrscht. Wenn einen jeder Leichenfund erschüttert, ist man
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