Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
nicht geeignet für diesen Job.
Endlich schlief er ein für wenige Stunden, doch der Schmerz riss ihn wieder hoch, Stachelmann stand auf, ging ein paar Schritte hin und her, als wäre das Hotelzimmer eine Zelle.
Dann legte er sich wieder ins Bett und versuchte zu schlafen. Aber seine Mutter fiel ihm ein, und es meldete sich das schlechte Gewissen. Er hatte sich mit seinem Vater gestritten, nicht mit der Mutter, aber seitdem war auch sein Verhältnis zur Mutter verschattet. Oder redete er sich das ein, weil es ihn in ein besseres Licht setzte? Die Mutter war nicht Hilfspolizistin gewesen. Aber, widersprach er sich, du hast nie gefragt, was sie gehalten hat vom Führer. Ob sie auch hysterisch gejubelt hatte wie die Mädchen später beim Beatles-Konzert? Da gab es so viele Fotos von Frauen, die außer sich waren, weil sie Hitler erblicken durften.
Dann döste er, bis Licht durch das Fenster schien. Müde stand er auf.
Stachelmann war der Erste im Frühstücksraum. Er fand die Rhein-Neckar-Zeitung vom Tag, legte sie auf seinen Tisch und stellte sich am Büfett ein Frühstück zusammen. Am Tisch schmierte er sich ein Marmeladenbrötchen, bestellte Kaffee bei der Kellnerin und fing an, in der Zeitung zu blättern. Als er das Gesicht sah, fiel ihm die Brötchenhälfte auf die Hose, mit der Marmelade nach unten. Er fluchte leise, legte das Brötchen auf den Teller und starrte auf das Foto in der Zeitung. Was bedeutete es? Er las den Text. Gestern Abend hatte es einen Autounfall gegeben auf den Neckarstaden, Höhe Alter Synagogenplatz. Ein Nissan, grau oder grün lackiert, mit Frankfurter Kennzeichen, hatte einen Golf überholt und ihn von der Straße gedrängt, bis der auf einen Baum geprallt war. Der Unfallverursacher, vermutlich ein Mann, war Richtung Schlierbacher Landstraße geflohen. Die Polizei hatte den Nissan zur Fahndung ausgeschrieben, aber noch nicht gefunden. Am Steuer des Golf saß eine Heidelbergerin, 46 Jahre, Mitarbeiterin der Rhein-Neckar-Zeitung. Im Bericht wurde ihr Nachname gekürzt, aber Stachelmann wusste, wer Monika B. war. Er hatte gestern mit ihr gesprochen. Sie hieß Brettschneider.
* * *
22. Oktober 1978
Das jetzt beginnende Wintersemester 78/79 wird beweisen, dass die Bewegung nicht am Ende ist. Bei den Germanisten und Medizinern herrscht wieder Ruhe, bis die Empörung ausbrechen wird über die Strafen für die so genannten Rädelsführer. Und die Mathematiker lassen sich nicht unterkriegen. Auch hier geht es um Klausuren, die eingeführt werden, weil es zu wenig Lehrkräfte gibt. Viele Veranstaltungen sind überfüllt, und da wollen sie sieben, statt das Lehrangebot zu erweitern. Es wird zuerst die Kommilitonen aus Arbeiterhaushalten treffen, weil die jobben müssen, um sich ein Studium leisten zu können. Das BAFöG reicht hinten und vorne nicht, es ist nur eine Beruhigungspille gegen die Rebellion. Lenin hat geschrieben, ein guter Agitator könne am Fehlen des Wassers für den Samowar im Reisezug beweisen, dass der Kapitalismus untergehen wird. Wir müssen beweisen, dass der Kapitalismus keine Zukunft hat, dass er nicht nur der Arbeiterklasse nichts zu bieten hat außer Ausbeutung, sondern auch der Intelligenz, vor allem den Studenten. Wir müssen uns besser schulen, wir müssen die Studenten überzeugen, dass es nicht allein um Klausuren geht, sondern um nicht weniger als um die Abschaffung des Kapitalismus.
Gestern Abend Streit mit Angelika. Sie ist in eine Frauengruppe eingetreten, und seitdem kritisiert sie mich. Männer nennt sie meistens Macker. Und wenn ich was vorschlage, muss sie widersprechen. Sie wirft mir vor, ich würde große Sprüche klopfen über die Revolution, aber die Frauen kämen darin nicht vor. So ein Quatsch.
Über L. hört man wenig. Die Bullen scheint's nicht mehr zu kümmern. Die haben Wichtigeres zu tun, Revolutionäre unterdrücken zum Beispiel.
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9
Er saß im Hotelzimmer auf dem Bett und sah seine Hand zittern. Erinnerungen bedrängten ihn, an den Psychoterror, dem er ausgesetzt gewesen war, nachdem er sich mit Ines eingelassen hatte, an deren Mann, Professor Wolf Griesbach, den er dann tot im Kofferraum seines Autos fand. An den Mann, der ihn auf die Gleise der Berliner U-Bahn gestoßen hatte. Es war wieder jemand hinter ihm her. Eine andere Erklärung konnte es nicht geben. Warum immer ich? Ich tue hier nichts, als ein paar alte Fotos anzuschauen. Wie haben die herausgekriegt, dass ich mit Frau Brettschneider zu tun hatte? Aber sie hat mir
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