Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
anlockte. Er genoss die trockene Kühle. Als der Schweiß einigermaßen versiegt war, zog er den Zettel aus der Tasche und las: Schmelzer, Schloss-Wolfsbrunnenweg 18a. Das war in der Nähe des Schlosses, wo auch Hitlers Rüstungsminister Speer gewohnt hatte, dem es noch nach dem Tod gelang, seine Biographen zu foppen. Ein Vergangenheitsartist, der am Ende womöglich selbst glaubte, in die Menschenschinderei und -vernichtung der Nazis nie einbezogen gewesen zu sein. Stachelmann entsann sich der Veröffentlichungen und Erklärungen dieses Mannes, des vielleicht berühmtesten Zeitzeugen der Nachkriegsgeschichte. Stachelmann grinste. Wie gesagt, der Zeitzeuge ist der größte Feind des Historikers. Vor allem, wenn der es nicht merkt oder nicht merken will.
Er bestellte Mineralwasser mit Eiswürfeln bei einer Kellnerin, die offenbar wegen seines Aussehens zögerte, ihn zu bedienen. Dann versuchte er sich über das klar zu werden, was er tat. Gib zu, du hast Lunte gerochen. Jetzt, wo du eine Idee hast, wie du vielleicht den Thingstättenmördern auf die Spur kommen könntest, jetzt gehst du auf die Suche. Dabei hat die Polizei bestimmt alle Bekannten Lehmanns befragt. Oder vielleicht doch nicht alle? Außerdem, wie sollte sie herausgefunden haben, wer alles zu Lehmanns Bekanntenkreis gezählt hatte? Die Studenten, welche die Polizei aufgetrieben hatte, dürften ihr kaum geholfen haben mit Auskünften. Das galt damals als ehrenrührig. Er überlegte, ob er zur Kripo gehen sollte, um zu schauen, was sie herausgefunden hatte. Aber er verwarf die Idee wieder. Dort kannte er niemanden. In Hamburg kannte er Carmen bei der Polizei. Sie gefiel ihm, gestand er sich ein. Und dass sie sich in ihrer Not zuerst an ihn gewandt hatte, das gefiel ihm auch. Einen Augenblick versuchte er sich an ihr Gesicht zu erinnern. Das war unmöglich, das Gehirn macht keine Eins-zu-eins-Kopien.
Als er ausgetrunken und bezahlt hatte, entschloss er sich, zur angegebenen Adresse zu laufen, ohne sich anzumelden. Der Schweiß nässte seine Haare und sein Hemd, als er den Hang hochstieg. Hier oben hatten Burschenschaften ihre Häuser und reiche Leute, vielleicht nicht ganz so reiche wie auf dem Hang auf der gegenüberliegenden Seite des Neckars, am Philosophenweg und an den anderen kleinen Straßen, wo sich eine Villa an die andere reihte.
Vor der eisernen Gartentür, neben der die Hausnummer im Zaun hing, verschnaufte Stachelmann und hoffte, das Schwitzen werde nachlassen, wenn er sich eine Weile nicht bewegte. Aber auch hier oben war es schwül, er fühlte sich klebrig. Stachelmann schaute sich wieder um, ob ihm jemand gefolgt war. Niemand zu entdecken. Er klingelte.
Erst tat sich nichts, dann öffnete sich die Haustür, eine Dame, gewiss um die achtzig, stand darin und winkte ihn zu sich. Stachelmann öffnete die Pforte und ging auf einem Weg aus Naturstein zum Haus. Die Dame hatte ein feines Gesicht und trug eine Brille mit Perlmuttrahmen.
»Guten Tag«, sagte Stachelmann.
Die Dame antwortete nicht.
»Mein Name ist Dr. Stachelmann. Ich war bei der Rhein-Neckar-Zeitung, dort gab man mir Ihre Anschrift. Ich suche Bilder.«
Die Dame musterte ihn. Stachelmann bildete sich ein, sie schaue ihn ein wenig freundlicher an. Jedenfalls fiel er nun nicht mehr in die Kategorie Versicherungsvertreter oder Tiefkühlessenlieferant.
»Wissen Sie, ich bin Historiker. Ich arbeite über die Heidelberger Universität« – fast hätte er »Studentenbewegung« gesagt und sie vielleicht verschreckt –, »und dafür suche ich Fotos. Herr Schmelzer, Ihr Gatte, nehme ich an, also, Herr Schmelzer hat viele Fotos gemacht, einige habe ich schon gesehen im Bildarchiv der Redaktion. Aber er hat doch bestimmt nicht alle bei der Zeitung abgeliefert. Vielleicht gibt es noch Abzüge oder Filme? Ach ja, mein Gesicht, ich wurde überfallen.«
Sie musterte ihn streng, aber er sah Neugier in ihren Augen. Wahrscheinlich bilde ich es mir nur ein. Die findet mich aufdringlich. Und wer so eine Visage hat wie ich, kann bei so einer nicht landen.
»Trinken Sie Tee?«, fragte die Dame. »Ich habe mir gerade einen gemacht, er reicht auch noch für Sie.«
Er hätte einiges gegeben für ein Glas kaltes Wasser. »Gern, vielen Dank«, sagte er. Und erinnerte er sich, schon mal gehört zu haben, Tee sei das ideale Getränk bei Hitze. Ihn würde er aber nur stärker schwitzen lassen.
»Kommen Sie«, sagte die Dame, »hier draußen ist es unerträglich heiß. Ich habe mir schon überlegt, ob
Weitere Kostenlose Bücher