Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
schon stimmen.
Die junge Frau brachte Tee und Sandwich.
Aber bevor er ins Universitätsarchiv ging, würde er Schmelzers Bilder fertig sortieren und entwickeln lassen.
Die Zweifel ließen sich nicht vertreiben. War nun auch die Kellnerin gefährdet, weil sie mit ihm gesprochen hatte? Nun mach dich nicht lächerlich. Wenn ich Zyniker wäre, dann würde ich sagen: Warten wir mal ab, wie lange Frau Schmelzer lebt oder der Leiter des Universitätsarchivs, den ich nachher besuchen werde.
Er zahlte, dann eilte er zum Hotel. Verschwitzt sortierte er die Negative, im Zweifel landeten Bilder auf dem Haufen, den er entwickeln lassen wollte. Als er fertig war, packte er die Streifen in seine Aktentasche, hängte sie sich über die Schulter und ging los. An der Ecke Hauptstraße/Große Mantelgasse fand er einen Fotoladen. Der Verkäufer hinterm Tresen schnaufte leise, als er die vielen Negativstreifen sah. Montagnachmittag seien sie entwickelt, das werde aber nicht billig. Er gab Stachelmann den Abholschein.
Im Universitätsarchiv in der Akademiestraße traf Stachelmann nur eine Studentin an, die als Hilfskraft arbeitete. Die anderen Mitarbeiter waren bereits ins Wochenende gegangen. Die Studentin war lang, dürr und hatte eine piepsige Stimme. Sie kannte sich gut aus. Bald saß Stachelmann allein im Lesesaal, vor sich Ordner mit Flugblättern und sonstigen Zeugnissen seiner Studienzeit. Er wusste nicht recht, wonach er suchen sollte. Lehmanns Name tauchte einige Male auf. Dann fand er ein Flugblatt, das Ossi geschrieben hatte. Es war natürlich nicht namentlich gezeichnet, aber Stachelmann erinnerte sich an die Aufregung, die es verursacht hatte. Warum eigentlich? Er las es, es handelte von der Auflösung der verfassten Studentenschaft, also von AStA, Studentenparlament und Fachschaftsvertretungen, und den Wahlen zu dem kastrierten Anhängsel des Großen Senats, den das Kultusministerium den Studenten als Interessenvertretung verordnet hatte. Eine Interessenvertretung, die sich alles und jedes vom Rektorat bewilligen lassen musste. Die linken Studentengruppen gründeten daraufhin eine Versammlung der studentischen Fachschaftsvertretungen, die regelmäßig tagten und an den Fakultäten zunehmend ernst genommen wurden, obwohl sie verboten waren. Ossis Flugblatt forderte die Fachschaftsvertretungen auf, eine Liste zu bilden für die Wahlen zu dem Kastraten-AStA, um den rechten Gruppen keine Chance zu geben, sich als studentische Interessenvertreter aufzuspielen. Stachelmann erkannte keinen Grund für die Aufregung, an die er sich erinnerte. Das hatten sie damals so wichtig genommen, und heute ließ es ihn kalt.
Andere Flugblätter oder Studentenzeitungen jubelten über Aktionen, als stünden die einzig wahren Revolutionäre kurz davor, die Macht im Staat zu erobern. Der Klassenfeind jedenfalls war schon schwer angeschlagen. Es war Stachelmann peinlich, diese großmäuligen Phrasen zu lesen. Während die Studentenbewegung ihrem Ende entgegeneilte, posaunten die letzten Sekten ihre endgültigen Wahrheiten umso lauter heraus. Aber es half nichts, er war dabei gewesen. Und Ossi auch, er hatte den Lautsprecher gegeben. Das war Jahrzehnte her und doch so nah.
Die Hilfskraft saß in einer Ecke und blätterte in einer Zeitung. Hin und wieder warf sie Stachelmann einen Blick zu, ihm schien, als amüsierte sie sich über ihn. Wenn sie es tat, dann hätte sie allen Grund dazu, dachte er.
Er war schlecht gelaunt, als er zum Hotel ging, nachdem er sich bei der Studentin bedankt hatte. Für eine Weile vergaß er sogar seine Angst. Die Flugblätter bewiesen, was er längst gewusst, aber immer wieder abgewehrt hatte. Dass er nicht gefeit war vor dem Wahn, der nichts anderes war als der größtmögliche Wirklichkeitsverlust. Es beruhigte ihn nicht, dass andere mitgemacht hatten, dadurch wurde es nicht besser. Man wird nicht weniger verrückt, wenn andere auch verrückt sind. Er war nicht der Agitator gewesen, er hatte nicht nur für die Revolution gelebt, sondern sogar fleißig studiert. Aber er hatte mitgemacht, da konnte er sich nicht herausreden.
Zurück im Hotel, mühte er sich, Fortschritte bei der Heilung seines Gesichts festzustellen, dann legte er sich aufs Bett. Er war nass geschwitzt, und sollte es ihm gelingen, etwas zu schlafen, würde er vielleicht in besserer Stimmung aufwachen. Aber er schlief nicht, die Schmerzen meldeten sich, und dann fiel ihm wieder Regine ein. Er stand auf und wählte ihre Nummer auf dem Handy.
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