Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
nahm gleich ab. »Ach, du bist es«, sagte sie. Es klang wie: Was willst du denn schon wieder?
Erst wusste er nicht, was er nun sagen sollte. Dann sagte er: »Ich würde mich gerne mit euch treffen, also mit denen, die mit Ossi zusammengesessen haben. Könntest du das organisieren?«
Sie sagte nichts, dann: »Ich kann es ja mal versuchen. Ich melde mich.« Sie verabschiedete sich knapp. Stachelmann setzte sich aufs Bett und überlegte, warum sie so abweisend war. Der Abend mit ihr war harmlos gewesen, aber am Telefon kam sie ihm vor, als wäre er der böse Feind. So ist sie nun mal, war es nicht früher auch so? Außerdem, es kann dir egal sein. Oder nicht? Ob bei ihr noch die Wut köchelt, weil er sie verraten hatte? Aber warum hatte sie ihn nicht zu Wort kommen lassen an diesem Abend beim Italiener? Ach, sei's drum. Es gibt Wichtigeres. Zum Beispiel muss ich meine Arbeit fortsetzen und meine Mutter anrufen.
Er hatte Angst, als er ihre Krankenhausnummer wählte. Sie meldete sich mit schwacher Stimme.
»Habe ich dich geweckt?«, fragte er.
»Ach, was soll man hier anderes tun als schlafen?«
»Was« – er zögerte, dann fragte er doch –, »was ist denn nun mit dieser zweiten OP?« OP klang nicht so hart wie Operation.
»Montag«, sagte sie. »Also versprechen sich die Ärzte etwas davon.«
Die Leitung war einige Sekunden still. »Ja, irgendwas werden sie sich schon versprechen.«
Er verstand: Sie wollen sich nicht nachsagen lassen, sie hätten nicht alles versucht.
»Und dann?«
»Dann wollen sie mich nach Hause schicken.«
Also keine Chemotherapie oder Bestrahlung. Aber er sagte es nicht.
»Wann kommst du denn nach Hause?«, fragte sie, als er schwieg.
»Eigentlich wollte ich bald zurückkommen. Aber daraus wird nichts. Ich muss noch etwas klären.«
»Und Anne?« Sie hatte noch nie nach ihr gefragt.
»Was soll mit ihr sein?«
»Entschuldigung, ich sollte mich nicht einmischen.«
Wusste sie etwas? Er überlegte, was er erzählt hatte von Anne. Wenig bis gar nichts. Eigentlich nur, dass es sie gab. Offenbar hatte seine Mutter Schlussfolgerungen gezogen. Er fragte nicht nach.
»Du rufst mich am Dienstag bitte an?«, fragte sie.
Nach dem Gespräch war er traurig. Es hörte sich nicht gut an, was sie sagte und wie sie es sagte.
Er legte sich wieder hin. Doch der Schmerz trieb ihn bald aus dem Bett, er lief eine Weile im Zimmer umher wie in einer Gefängniszelle. Dann schaute er wieder in den Spiegel, als könnten die Flecken in seinem Gesicht schon verschwunden sein. Er musste hinaus, ihm kam es so vor, als hielte er es nicht mehr aus mit sich. Eigentlich müsstest du übers Wochenende an deiner Arbeit sitzen. Du hast noch keine Zeile geschafft. Aber wie sollte er arbeiten, unruhig, wie er war? Er lief los und erkannte bald, irgendetwas führte ihn zum Philosophenweg. Er schnaufte schwer, als er die Steigung hinauflief, und gleich floss wieder der Schweiß. Als die Knie schmerzten, überlegte er, ob er nicht umkehren sollte. Aber dann entschied er sich, dem Schmerz zu trotzen. Immer weiter. Auf der ersten Bank saßen zwei alte Frauen, also noch weiter. Dann endlich eine leere Bank und der Blick durch den Dunst aufs Schloss. Da drüben wohnte Frau Schmelzer, fast konnte er das Haus erkennen. Er staunte über den Verkehrslärm, der aus dem Neckartal hochstieg. So laut hatte er den Philosophenweg nicht in Erinnerung. Unten auf dem Neckar kroch ein langer Frachter in Richtung Mannheim, er lag tief im Wasser.
Wie lange sollte er bleiben in Heidelberg? Er beschloss, unverzüglich nach Hause zu fahren, wenn die Fotos nichts ergaben. Wenn sie einen Hinweis enthielten, würde er dem nachgehen, so schnell es ging. Dienstag, spätestens Mittwoch musste er seine Mutter besuchen. Es fiel ihm schwer, am Telefon mit ihr über den Krebs und die Operationen zu sprechen.
Er erhob sich und ging weiter. Nun war der Weg fast eben, im Tal, wie aus dem Modellbaukasten, die Marstallmensa. Auf dem Philosophenweg war es nicht so schwül wie in der Stadt. Ein sanfter Wind kühlte. Wenig Spaziergänger, die meisten alte Leute. Dann eine Gruppe japanischer Touristen, die die Aussicht bestaunten, eifrig fotografierten, als gäbe es keine Täler und Schlösser in Japan. Viele Besucher in Heidelberg sehen nicht, was ist, sondern was sie sehen wollen, es ist mehr ein Gefühl. Vor den Pupillen wachsen Weichzeichner. Die Leute glauben, in den Mauern der Stadt Romantik zu entdecken, dabei wird diese längst künstlich hergestellt
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