Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
nahm er alle Mahlzeiten ein und machte einen kurzen Spaziergang am Neckar entlang. Wieder beschäftigte er sich mit seiner Habilschrift.
Als er am Montag das Hotel verließ, war er unzufrieden. Er hatte schlecht geschlafen wegen des Schmerzes und weil die Fragen und Ängste zurückgekehrt waren in dem Maß, wie die Lähmung schwand. Da tröstete es ihn wenig, dass sein Gesicht allmählich wieder normal aussah. Stachelmann kam es vor, als kröche er auf Klebstoff, der ihn daran hinderte, schnell voranzukommen. Alles war zäh, nichts klappte reibungslos.
Im Fotogeschäft musste er gut fünfzig Euro bezahlen für die Abzüge. Er hatte die Negative nicht gezählt und sich verschätzt. Aber es ärgerte ihn nur kurz. Er fand einen schattigen Platz an einem leeren Außentisch eines Cafés, das schon früher vor dem Harmonie-Kino Gäste angelockt hatte. Er öffnete den ersten der fünf Umschläge, die er im Fotogeschäft erhalten hatte. Schnell blätterte er durch die Bilder. Zu der Zeit, als sie aufgenommen worden waren, hatte es den SDS noch gegeben, das hatte er nicht erkannt auf den Negativen. Er schaute sich um, ob ihn jemand beobachtete. Der zweite Umschlag enthielt interessantere Fotos, das sah er sofort. Schon auf dem dritten Foto erkannte er Ossi in der ersten Reihe einer Demonstration in der Hauptstraße, vielleicht auf der Höhe, wo Stachelmann gerade saß. Ossi rief irgendetwas im Rhythmus mit anderen, auch die Leute neben ihm hatten die Münder weit geöffnet. Die Ecke einer Fahne ragte ins Foto, sie war gewiss rot gewesen. Er blätterte aufgeregt weiter und übersah die Kellnerin, bis diese ihn laut nach seiner Bestellung fragte. Geistesabwesend und ohne sie anzuschauen sagte er »Kaffee«, um sie loszuwerden. Sie zog ab, er sortierte Fotos heraus, auf denen er bekannte Gesichter sah. Und auf einem, er war sich sicher, erkannte er Lehmann. Der stand vor dem Brunnen auf dem Marktplatz, im Hintergrund das Rathaus, neben ihm drei Männer, zwei davon trugen Parkas, dahinter ein Menschenknäuel. Vielleicht eine Kundgebung vor dem Rathaus. Aber das interessierte Stachelmann jetzt nicht.
Die Kellnerin stellte den Kaffee mit einem in Plastik verpackten Keks auf der Untertasse und länglichen Zuckertüten auf den Tisch. Stachelmann erschrak, bedankte sich hastig, sah die Frau den Kopf schütteln, doch das war ihm egal.
Wieder prüfte er, ob ihn jemand beobachtete. Niemand. Das Pärchen am Nebentisch war mit sich selbst beschäftigt. Schnell öffnete er den nächsten Umschlag. Beim Blättern stutzte er, dann erkannte er sich selbst, im Hintergrund die rückwärtige Front der Neuen Universität. Der Fotograf muss vor dem Hexenturm gestanden haben, also dem Historischen Seminar. Stachelmann stand am Rand einer Gruppe, in der Nähe Ossi, der offenbar auf einen Dritten einredete. Leicht vorgebeugt, die Hand gestikulierte, der andere wich ein wenig zurück. Aber als dieses Foto geschossen worden war, war Lehmann längst tot. Die ganze Serie stammte aus der Zeit nach dem Mord.
Also den dritten Umschlag. Da waren keine Leute, die er gekannt hatte. Ein Foto legte er auf den Stapel, dann nahm er es wieder in die Hand. Er starrte auf ein Gesicht in einer Gruppe, in der offensichtlich einer redete, während die anderen zuhörten. Einige der Gestalten waren verdeckt durch andere, ein Gesicht im Profil war schlecht zu erkennen, doch Stachelmann glaubte, es könnte sich um Lehmann handeln. Ohne Lupe kam er nicht weiter. Er packte die Fotos in die Umschläge, nippte am Kaffee, schaute in der Speisekarte nach, wie viel der kostete, klemmte einen Fünf-Euro-Schein unter die Untertasse und eilte in Richtung Hotel. Die Hitze brütete schon, obwohl noch nicht Mittag war. Jeden Tag schwitzte er, bald würde er seine Kleidung aufgebraucht haben.
Diesmal duschte er nicht, sondern wusch sich nur Gesicht und Hände. Dann schaute er sich im Schnelldurchgang alle Fotos an. Die meisten würden ihm nicht helfen, sie sonderte er aus. Er würde sie Frau Schmelzer schenken. Den kleineren Stapel musste er gründlich abarbeiten. Er zwang sich zur Geduld. Foto nach Foto musterte er unter der Lupe. Fotos, auf denen er bekannte Gesichter wähnte, warf er aufs Bett. Das erste Foto, das Lehmann zeigte, legte er vor sich auf den Schreibtisch. Die Lupe half, aber auf manchen Fotos waren einzelne Personen so klein abgebildet, dass er sich in vier Fällen nicht sicher war, ob es sich um Lehmann handelte. Am Ende lagen sieben Fotos vor ihm. Bei dreien war er
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