Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
verabredet.«
»Daraus wird leider nichts, junger Mann. Frau Schmelzer ist krank, sehr krank.«
Stachelmann wartete einige Sekunden, dann fragte er: »Was hat sie?«
»Herzinfarkt. Nicht ihr erster. Sie hat ein schwaches Herz, aber das wissen Sie ja.«
Stachelmann nickte.
»So, ich muss jetzt weiter«, sagte der Arzt. Er reichte Stachelmann die Hand. Dann eilte er hinaus.
Stachelmann stand im Flur und schaute sich um. Jemand schloss die Tür von draußen. Jeden Augenblick würde sie aus dem Wohnzimmer kommen und ihm die Hand entgegenstrecken. Er hatte sie kaum gekannt, und doch war er traurig. Er ging ins Wohnzimmer. Eine Teetasse stand halb gefüllt auf dem Tisch, die Kanne daneben. Auf dem Boden lag die Rhein-Neckar-Zeitung. »TV-Duell ver..«, las er in der Schlagzeile, der Rest war verdeckt. Er setzte sich auf den Sessel am großen Fenster. Es lag wenig Dunst über der Stadt, alles war genau zu erkennen. Stachelmann kam sich vor wie bei der Besichtigung eines Stadtmodells im Museum. Nur dass hier Menschen umherwuselten, unzählige Menschen. Er erkannte Touristengruppen, auch Einheimische, die irgendwohin strebten. Die Altstadt auf dem Präsentierteller. Hier könnte er stundenlang sitzen und nur beobachten, als erführe er so das innere Bewegungsgesetz Heidelbergs. Da unten, auf der Hauptstraße, hatten die Studenten demonstriert von den Sechzigerjahren bis 1978. Seitdem war Heidelberg schwarz und ruhig. Die Häuser wie geleckt, die Hauptstraße sauber, die Studenten modisch gekleidet. Heidelberg war eine andere Stadt geworden. Ob besser, ob schlechter, er wusste es nicht und wollte es auch nicht wissen. Sie hatten damals einiges aufs Spiel gesetzt für Wahnideen. In Heidelberg protestierte man nicht ohne Risiko. Heute gingen sie nicht mehr auf die Straße für den Massenschlächter Mao oder den großen Unterdrücker Breschnew, sondern für mehr Geld oder gegen weniger Geld. Das war sachlich und einfach. Er saß mehr als eine Stunde auf dem Sessel, in trüben Gedanken versunken. Eigentlich kannst du nach Hause fahren, du hast mit dieser Stadt nichts zu tun. Die Stadt, in der du gelebt hast, gibt es nur noch in deiner Erinnerung.
Warum passiert Leuten, mit denen ich zu tun habe, immer irgendetwas? Monika Brettschneider erst, jetzt Frau Schmelzer. Herzinfarkt, sagt der Doktor. Und wenn jemand nachgeholfen hat? Die Angst meldete sich, die ihn begleitete, seit er in Heidelberg war. Bleib vernünftig. Doch ihm wurde heiß. Noch ist sie nicht tot, vielleicht überlebt sie den Infarkt.
An der Tür klapperte etwas, er erschrak. Jetzt holen sie dich.
»Was denkst du, was wir für das Haus kriegen?« Eine Frauenstimme.
»Bei der Lage, und die Bausubstanz ist nicht schlecht. Vielleicht ein bisschen renovieren, auf Schönheit. Siebenhunderttausend mindestens. Wir fragen mal jemanden, der etwas davon versteht.« Eine Männerstimme.
Stachelmann stand auf. Also kein Mörder. Was sollte er tun?
Da betrat die Frau schon das Wohnzimmer. »Was machen Sie denn hier?«, fragte sie erschrocken.
»Ich, ich bin mit Frau Schmelzer verabredet. Wegen der Fotos«, sagte Stachelmann.
Der Mann stellte sich neben die Frau. Sie waren beide lässig, aber offensichtlich teuer gekleidet, sie trug goldene Ohrringe. »Welche Fotos?«, fragte der Mann.
Stachelmann öffnete die Aktentasche, die beiden schauten misstrauisch zu. Stachelmann legte die Umschläge auf den Tisch. »Ich hatte versprochen, die Fotos zu entwickeln.« Er zeigte auf die Umschläge.
Der Mann trat an den Tisch, warf Stachelmann einen finsteren Blick zu und öffnete einen Umschlag. Er betrachtete Negativstreifen und Papierabzüge, dann sagte er: »Die sind wohl von Opa.«
»Wie kommen Sie zu diesen Fotos? Und wie kommen Sie hier herein?«, keifte die Frau.
»Frau Schmelzer hat sie mir gegeben, damit ich sie entwickeln lasse. Und jetzt bin ich gekommen, um sie abzugeben.«
»Aber Sie können doch nicht einfach so hier reinmarschieren«, sagte der Mann.
»Oh, Frau Schmelzer hat oft die Tür aufgelassen, wenn wir verabredet waren. Ich bin nämlich ziemlich pünktlich, wissen Sie.«
»Ziemlich pünktlich«, sagte der Mann, als prüfe er die Worte. Er wollte Zeit gewinnen, um zu überlegen, wie er die Lage verstehen sollte.
»Also, ich will Sie nicht weiter stören«, sagte Stachelmann. »Die Fotos lasse ich hier.« Er hängte sich die Aktentasche über die Schulter und ging zur Wohnzimmertür, wo immer noch das Pärchen stand. Sie schienen ratlos und machten
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