Schatten eines Gottes (German Edition)
Augen passten nicht zu der demütigen Haltung des Alten. »Was bewacht Ihr denn?«, fragte Emanuel misstrauisch. »Diese Ruinen? Die Rabenhorste? Die Disteln, die Ackerwinde und den Schachtelhalm?«
»Ich bewache ihren Zerfall. Ich beobachte ihre Zerstörung. Die Kräfte der Natur arbeiten langsam, aber stetig.«
Emanuel und Octavien warfen sich einen vielsagenden Blick zu. »Das ergibt für uns keinen Sinn, Alter«, sagte Octavien und musterte argwöhnisch die Umgebung. »Wahrscheinlich bewachst du ganz etwas anderes. Wer hat dich mit dem Wächteramt beauftragt? Wem dienst du?«
»Dem Grafen Saint-Omer. Seinen Vorfahren hat die Burg dereinst gehört. Sie darf nie wieder aufgebaut werden, denn es ruht ein Fluch auf ihr.«
»Freilich«, spottete Emanuel, »so ein Fluch kann recht nützlich sein, wenn man hier Dinge verbergen will, die niemals das Tageslicht erblicken sollen.«
»Ihr sprecht in Rätseln. Darf ich nun meinerseits fragen, wer Ihr seid und was Euch hierher getrieben hat? Seit Jahren hat niemand mehr dieses Tal betreten, der Fluch hält die Leute fern. Die Dorfbewohner sind vor langer Zeit fortgezogen, denn mit der Zeit begann sich ihr Verstand zu verwirren.«
»Aber du hast den deinen immer noch recht gut beisammen, wie es scheint.«
»Ich bin der Wächter. Ich banne den Fluch, weil ich ihn erfülle.«
Octavien schickte einen schiefen Blick hinauf zu dem Bergfried. »Wohnst du im Turm?«
»Ja.«
»Ich bin Octavien de Saint-Amand, ein Nachfahre der Tempelritter der ersten Stunde. Ich begleite Bruder Emanuel, einen Zisterziensermönch, wie du unschwer an seinem Habit erkennen kannst.«
»Ich sehe es.«
Der Blick des Wächters war nicht freundlich.
»Der Erzbischof von Köln hat mich mit einem Auftrag betraut«, erläuterte Emanuel. »Wir glauben, dass wir uns hier am rechten Ort befinden, um ihn zu Ende zu bringen.«
»In dieser fluchbeladenen Ruine? Was ist das für ein Auftrag?«
»Das muss dich nicht kümmern. Beantworte nur unsere Fragen.«
Der Alte blitzte sie zornig an. »Ihr seid nicht mein Gebieter, Mönch! Eure Fragen beantworte ich, wenn ich will.«
»Der Mann hat recht«, beeilte sich Octavien zu beschwichtigen und wandte sich an den Wächter: »Wir wären dir verbunden, wenn du uns bei der Erfüllung des Auftrages behilflich wärst. Sicher bist du ein guter Christ und bereit, dem Bischof einen Dienst zu erweisen.«
»Pah! Köln ist weit, und ein guter Christ ist heutzutage gut beraten, den Klerus zu meiden.«
»Aber über den Fluch wirst du uns etwas erzählen können?«
»Über den Fluch?« Der Wächter stieß ein bitteres Gelächter aus. Dann heftete er seine durchdringenden Blicke auf die beiden. »Ein Templer und ein Zisterzienser! Was für ein Zufall! Seid Ihr gekommen, den Fluch zu erfüllen? Denn es waren Templer und Zisterzienser, die das Unheil heraufbeschworen haben.«
Er wies auf die Grabplatten. »Dort liegen sie in ungeweihter Erde, auf ewig verflucht. Und nur der magische Kreis verhindert, dass ihre Seelen die Stätte verlassen und Schaden anrichten.«
»Heidnischer Unfug!«, brummte Emanuel.
»Was für eine Schuld haben sie auf sich geladen?«, fragte Octavien geduldig, Emanuels Einwurf überhörend.
»Selbstmord!« Der Wächter warf einen scheuen Blick auf die Grabplatten. »Sie haben sich erhängt. Da oben am Bergfried an dem kleinen Fenster haben sie die Seile befestigt, sich die Schlingen um die Hälse gelegt und sind gesprungen. Die Raben der Burg haben das Fleisch der Gottlosen gefressen. Später holte man ihre Gebeine herunter und verscharrte sie hier.«
»Eine zu Herzen gehende Schauergeschichte«, spottete Emanuel. »Wenn alle Orte, an denen es Selbstmörder gab, verflucht wären, dann wäre die halbe Welt verflucht.«
»Und ist sie es nicht?«
Octavien räusperte sich ungeduldig. Er hatte das Gefühl, der Alte halte sie hin. »Die armen Teufel haben sich also erhängt. Warum?«
Der Wächter zuckte die Achseln, doch in seinen Mundwinkeln nistete ein kaltes Lächeln. »Genaues weiß keiner. Aber es heißt, sie hätten aus dem Heiligen Land etwas mitgebracht. Sie, das waren neun Männer, die hofften, aus dem Schutt der Vergangenheit die Wahrheit auszugraben. Die Wahrheit über jene Zeit, als der Heiland noch auf Erden wandelte. Etwas Handfestes, das den Anspruch der wahren katholischen Kirche untermauern würde, denn wie allgemein bekannt ist, gibt es nicht den geringsten Beweis für die Existenz Jesu.«
Emanuel bekreuzigte sich. »Du
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