Schatten eines Gottes (German Edition)
Interessierten zur Verfügung, um es einer genauen Prüfung zu unterziehen.«
Das jähe Schweigen legte sich wie eine Glocke über alle Anwesenden, das nur hier und da von einem vorsichtigen Hüsteln unterbrochen wurde. Ein Original aus der Zeit Jesu, danach hatte die Kirche bisher vergeblich gesucht. Die älteste Schrift, das Markusevangelium, die Aussagen zu dem damaligen Geschehen machte, wurde auf siebzig Jahre nach Christus geschätzt und war auf Griechisch verfasst. Nathaniel hatte jedoch von einem aramäischen Text gesprochen. Noch älter waren die Briefe des Paulus, der jedoch auch kein Augenzeuge des Geschehens war und die Dinge nur vom Hörensagen kannte. Er war Jesus niemals begegnet, außer in einer angeblichen Vision. Außerdem waren auch seine Briefe auf Griechisch geschrieben, und etliche von ihnen galten als Fälschungen.
Daher verwunderte es nicht, dass allein die Erwähnung eines solchen Exemplars großes Staunen hervorrief. Fassungslose Blicke wurden ausgetauscht, zweifelnde Blicke, Hoffnungsvolles und Unglaubliches waberte durch den Saal, berührte jeden Einzelnen, machte sie alle für Sekunden stumm. Doch langsam kam Bewegung in die erstarrten Männer. Von allen Seiten wurde Nathaniel mit Fragen bestürmt. Wenn es ein Palimpsest ist, woher kennt Ihr den ursprünglichen Text? Bei wem befand sich das Exemplar bis dahin? Wo wurde es gefunden? Wer hat den Text der Apokalypse darüber geschrieben?
»Ich war es!«
Alle Köpfe wandten sich dem Ausrufer zu.
De Monthelon hatte sich erhoben. »Soviel darf ich sagen. Es handelt sich tatsächlich um ein Vermächtnis Jesu. Ich habe es in den Archiven des Klosters in einem alten Tagebuch gefunden. Da die Schrift damals noch erhalten war und ich das Aramäische beherrsche, war mir sofort klar, dass niemand davon erfahren darf. Mir war, als hielte ich glühende Kohle in den Händen. Was sollte ich damit tun? Ich hätte es verbrennen können, aber ein so welterschütterndes Dokument zu vernichten, das ging mir gegen die Natur. Lange überlegte ich, wem ich mich anvertrauen könnte. Doch ich traute niemandem. Es war die Zeit der Kreuzzüge und der grausamen Ketzerverfolgungen. Ich begann die Kirche zu hassen, den Papst vor allem. Immer wieder nahm ich das Pergament zur Hand, starrte auf die Heilsbotschaft, die so gänzlich dem entgegengesetzt war, was an Gräueln geschah. Es war ein Kleinod, das ich schützen musste vor diesen Wahnsinnigen. Der Gedanke verfolgte mich in meinen Träumen. Eines Tages begann ich in wilder Hast, die Buchstaben abzukratzen. Dabei gab ich mir Mühe, die Buchstaben nicht völlig unkenntlich zu machen. Dann beschrieb ich in meiner ohnmächtigen Wut das Pergament mit dem Text der Apokalypse, den ich gegen den Papst richtete. Ich wollte es nicht mehr im Hause haben, also vergrub ich es an einem abgelegenen Ort, der als verflucht galt. Dort mochte es ruhen, bis es seiner Bestimmung zugeführt wurde. Ich hatte nichts mehr damit zu tun.
Das glaubte ich, bis Octavien de Saint-Amand und Bruder Emanuel mich in meiner Klausur besuchten. Es waren mutige Männer, die auch vor dem Fluch, der auf dem Fundort lastete, nicht zurückschreckten. Deshalb dachte ich mir, dies sei vielleicht ein Fingerzeig Gottes, der die Zeit für gekommen hielt, das Vermächtnis ans Licht zu holen.«
De Monthelons Ausführungen führten zu einer weiteren heftigen Diskussion. Ein Vermächtnis Jesu? Das war mehr als sie zu hoffen wagten. Alle waren begierig zu erfahren, was der Sohn Gottes den Menschen Unglaubliches hinterlassen hatte. Auch den Angehörigen anderer Religionen und den Atheisten unter ihnen lief ein kleiner Schauer über den Rücken.
Nathaniel genoss sichtlich den Aufruhr, die Verwirrung und die brennende Neugier, die seine Ausführungen verursacht hatten. Nun versuchte er, die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. »Der Augenblick ist gekommen. Ich werde jetzt das Pergament herausnehmen und die Tinte vorsichtig abkratzen.«
Als Erster erhob sich de Chartres und ging nach vorn. »Das möchte ich sehen.«
Ihm folgten nach und nach die anderen, einige voller Hast, andere zögerlich. Jeder von ihnen wusste, was dieser Fund für die Kirche bedeuten musste, wenn er echt war.
Nathaniel löste mit einem Bimsstein vorsichtig die Partikel der Schrift. Der Behälter mit Gallapfeltinktur stand bereit. Zwei Worte wurden entfernt, drei Worte, dann eine ganze Zeile. Darunter fand sich – nichts! Nathaniel betrachtete ungläubig die leere Fläche. Aber ohne
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