Schatten eines Gottes (German Edition)
zu säumen setzte er die Arbeit fort, bedachtsam und ohne zu zittern. Die nächste Zeile würde die Wahrheit ans Licht bringen. Doch auch hier brachte die Tinktur nichts als nacktes Pergament zutage, von dunkler Farbe und zerkratzt vom häufigen Gebrauch, aber ohne die Spur eines Textes.
»Die Apokalypse nimmt mehr Raum ein als das Vermächtnis«, murmelte er, »die dritte Zeile wird es offenbaren.«
Aber er konnte nicht verhindern, dass ihm ein Schweißtropfen von der Stirn auf das Pergament tropfte. Auch nach der vierten und fünften Zeile lag vor ihm nichts anderes als ein unbeschriebenes Blatt. Ein fürchterlicher Verdacht nagte in seinen Eingeweiden wie eine fette Ratte. Der kaltblütige Abt begann zu beben, seine Hände bewegten sich hektischer, er wagte es nicht, aufzuhören, und doch wusste er in diesem Augenblick, dass er bis zur letzten Zeile nichts finden würde. Er besaß das falsche Dokument. Die Verzweiflung drohte ihn zu überwältigen. Die Scham über die Niederlage raubte ihm beinahe den Verstand. Seine Gedanken sprangen in alle Richtungen wie eine Herde Zicklein, in die der Wolf gefallen war. Sein Bimsstein kratzte jetzt kreuz und quer über das Pergament, aus seiner Unterlippe tropfte Blut.
Da spürte er eine Hand auf der Schulter. »Hör auf, Nathaniel.«
Er hob den Kopf. Der Großmeister stand neben ihm. Die übrigen Männer standen wie verlorene Schafe um ihn herum, Nathaniel sah misstrauische, ratlose und mitleidige Blicke. Er hätte sich vor Enttäuschung die Seele aus dem Leib schreien mögen, aber er konnte nur flüstern: »Ich wurde betrogen. Jemand hat das Pergament ausgetauscht. Unsere Idee wurde verraten.«
»Sagt uns, was in dem anderen Pergament stand!«, rief jemand. »Ja, was wurde uns hier vorenthalten? Ihr müsst es uns sagen!«
Nathaniel war bleich wie der Tod. »Die Zehn Gebote«, flüsterte er.
»Die Zehn Gebote?«, kam es enttäuscht zurück. Und ein Scharfsinniger bemerkte: »Die stammen nicht aus der Zeit Jesu, sondern des Moses.«
Einige lachten.
Nathaniel hatte Mühe, sich Gehör zu verschaffen, so zitterte seine Stimme. »Die neuen Zehn Gebote, die Jesus beim letzten Abendmahl seinen Jüngern verkündete.«
Die Stille nach diesen Worten war unheimlich. Dann ging die allgemeine Sprachlosigkeit in ein Stöhnen über, plötzlich schrie jeder durcheinander, auf Nathaniel prasselten hundert Fragen und Vorwürfe ein. Einige schimpften ihn gar einen Lügner. Der Großmeister gebot den Männern Schweigen, doch sie hörten nicht auf ihn. Da legte de Chartres Nathaniel den Arm um die Schultern und führte ihn hinaus. »Lass sie mit dieser Erschütterung auf ihre Weise fertig werden. Die Verräter werden gefunden und bestraft.«
»Ich kenne sie«, knirschte Nathaniel, »sie sind hier, sie sind unter uns.«
Aber als er sich umsah, waren Emanuel und Octavien nirgendwo zu erblicken.
***
Die beiden hatten schon seit geraumer Zeit die Katakomben verlassen. Bereits die ersten Worte des Abtes hatten sie misstrauisch werden lassen, doch als er begonnen hatte, von einem Palimpsest zu sprechen, da wussten sie, dass etwas ganz und gar nicht stimmen konnte.
»Wir müssen hier so schnell wie möglich verschwinden«, zischte Octavien. Emanuel nickte. Die allgemeine Aufmerksamkeit der Versammlung richtete sich auf Nathaniel, deshalb gelangten sie unbemerkt zum Ausgang. Die Mönche, die dort Wache hielten, kannten sie als Begleiter des Abtes und ließen sie anstandslos gehen. Sie durchquerten die Kirche und hasteten hinaus auf die Via Appia Antica. »Wohin?«, rief Emanuel.
Octavien sah die gepflasterte Straße hinunter, die gerade wie eine Schnur die Landschaft durchschnitt. »Ich weiß nicht. Suchen wir uns doch ein Grab.«
»Du musst nicht gleich sarkastisch werden.«
»Ich meine, ein altes unbewohntes Grab. Komm!«
Da sie mit einer Kutsche vorgefahren waren, hatten sie keine Pferde dabei. Sie liefen eine Weile nach Süden, bis sie auf einem mit Gebüschen bestandenen Feld eine Ruine entdeckten, hinter der sie vorübergehend Deckung suchten, um zu verschnaufen.
Emanuel pflückte ein paar Disteln von seinem Habit. Octavien setzte sich, den Rücken gegen die Mauer gelehnt, und starrte finster vor sich hin. »Nathaniel wusste von Anfang an, was sich unter der Apokalypse verbarg!«, stieß er gallig hervor. »Monthelon muss es ihm gesagt haben.«
Emanuel nickte. »Und Monthelon hat es bereits gewusst, als er uns nach Burg Hirscheck schickte. Es war alles geplant. Wir wurden
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