Schatten eines Gottes (German Edition)
Pergament vor die Versammlung tratet, da wussten wir nicht, dass Ihr von diesen Geboten Kenntnis hattet. Sonst hätten wir Euch über das falsche Pergament aufgeklärt. Ihr habt uns ebenso getäuscht.«
»Ich trage eine große, ja eine gewaltige Verantwortung auf meinen Schultern. Ich muss mit allen Mitteln unsere gerechte Sache zum Sieg führen, dazu gehören auch Täuschungen. Aber reden wir nicht davon. Das Pergament muss gefunden werden. Nicht auszudenken, wenn es in die falschen Hände geriete. Wo ist denn Bruder Emanuel?«
»Er trägt keine Schuld an dem Verlust. Es betrübt ihn sehr, dass die Veranstaltung heute kein Erfolg geworden ist. Glaubt mir, er steht treu zur Bruderschaft.«
»Dann wäre er hier, nicht wahr? Ihr beide schafft mir das Palimpsest wieder herbei, wie ihr das bewerkstelligt, ist mir gleichgültig. Ich will es haben. Ich muss es haben. Die da drin haben mich einen Lügner geschimpft. Ich muss ihnen beweisen, dass es existiert, sonst zerfällt die Organisation.«
»Wir werden alles daran setzen, es zu finden«, versprach Octavien, obwohl er die Suche für völlig aussichtslos hielt.
Nathaniel entspannte sich ein wenig und setzte eine unbeteiligte Miene auf. Er glaubte Octavien kein Wort, vielmehr vermutete er, dass der kluge Mönch sein eigenes Spiel spielte und sehr wohl um den Verbleib des Pergaments wusste. Er kannte Emanuels Ehrgeiz. Für seinen Vorteil würde er alles wagen, und wo würde ihm höchster Lohn für so einen Fund winken, wenn nicht beim Heiligen Vater persönlich. Allerdings war er zu schlau, um es ihm einfach unter die Nase zu halten. Wahrscheinlich hatte er das Pergament gut versteckt und wartete einen richtigen Zeitpunkt ab, um es für seine Zwecke zu verwenden. Aber hier in Rom war Octavien der Einzige, dem Emanuel vertraute. Deshalb wollte Nathaniel ihn nicht mit Drohungen einschüchtern.
»Ich möchte, dass ihr euch zurück nach St. Marien begebt. Vielleicht ist das Pergament inzwischen irgendwo aufgetaucht. Meine Zuträger sind sehr fähige Leute. Wartet dort auf mich. Ich habe in Rom noch einiges zu erledigen.«
Wenn Emanuel meiner Bitte folgt,
so überlegte Nathaniel,
dann kann er in St. Marien erst einmal kein Unheil anrichten. Weigert er sich aber, dann muss ich annehmen, dass er sich gegen mich stellen wird. Dann muss er sterben.
Abtei Mont Cenis
Agnes erwachte mit ausgedörrter Kehle und einem fürchterlichen Durst. Widerwärtige Gerüche nahmen ihr die Luft zum Atmen. Ein Stöhnen, Ächzen und Wimmern umgab sie, als befinde sie sich in einem Albtraum. Darin bewegten sich Schatten, sie gingen hin und her, schwerfällig, als trügen sie eine Last. Sie lag unter einer dünnen Decke, aber ihr war warm. Wo befand sie sich? Sie konnte sich nur noch an Kälte erinnern. An schmerzende Finger und Zehen, an ein mühsames Stapfen durch tiefen Schnee und an die Schreie, die in tiefen Schluchten verhallten.
Über sie beugte sich ein bärtiges Gesicht. Sie blinzelte durch ihre verklebten Lider. Es war ein Mönch, er trug eine dieser braunen Kutten. Sie hasste diese Männer, sie wollte schreien, denn sie glaubte, man habe sie in eins ihrer Klöster verschleppt, wo die Geister verstorbener Mönche jaulten und winselten. Aber sie konnte nur flüstern: »Wasser.«
Sie spürte einen Becher an den Lippen, trank gierig, verschluckte sich, hustete, würgte, trank weiter. »Mehr!«, verlangte sie heiser. Dann legte ihr jemand einen kühlen Lappen auf die Stirn. Wie gut das tat!
»Du lebst. Der Herr sei gelobt«, sagte der Mönch.
Agnes versuchte den Kopf zu drehen. Neben ihr keuchte jemand. Ein Junge, den sie kannte. Er war auf dem Marsch immer an ihrer Seite gewesen, hatte nie ein Wort gesagt, auch nicht, wenn man ihn ansprach.
»Wo bin ich hier?«
»Du bist in der Abtei Mont Cenis. Du warst sehr krank. Alle hier sind krank. Viele werden sterben.«
Agnes versuchte sich aufzurichten. Jetzt erkannte sie, dass sie sich auf einer Krankenstation befand. Überall lagen Kinder auf Strohsäcken, und die umhergehenden Schatten waren Mönche, die sie versorgten.
»Lege dich wieder hin, meine Tochter, du hast Fieber.«
Ächzend ließ Agnes sich ins Stroh zurücksinken. Sie fühlte sich tatsächlich sehr schwach. Aber eins machte ihr Hoffnung: Wenn sie sich in Mont Cenis befand, hatte sie das Schlimmste hinter sich.
»Wie lange bin ich schon hier?«
»Zwei Tage. Der größte Teil des Zuges ist weiter marschiert. Er muss die Berge bereits hinter sich gelassen haben.
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