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Schatten eines Gottes (German Edition)

Schatten eines Gottes (German Edition)

Titel: Schatten eines Gottes (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Ahrens
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Agnes watete vorsichtig hinein, spürte, wie die Wellen ihre Knöchel umspielten, dann ihre Knie. Sie ging weiter, tauchte ganz unter. Es war herrlich. Das Wasser war salzig, man konnte es nicht trinken, aber es war erfrischend kühl. Bis zur Hüfte ging sie hinein, dann kehrte sie wieder um, denn sie konnte nicht schwimmen.
    Es war warm. Mit ihren nassen Kleidern legte sie sich ins Gras und schaute zum Himmel hinauf. Was für ein Land! Ihre Leiden waren nicht umsonst gewesen, die Strapazen hatten sich gelohnt.
    Das Wasser teilte sich nicht, aber noch waren sie nicht in Genua. Dort sollte das Wunder passieren. Als sie endlich in Genua eintrafen, erlaubte man ihnen nicht, im Hafen zu warten. Die Kinder mussten außerhalb der Stadt am Strand nächtigen. Aber das war nichts Neues. Nicholas begab sich mit einigen Mönchen in die Stadt. Sie wollten mit dem Stadtrat sprechen. Einige fragten sich, wozu das gut sein sollte. Nicht der Stadtrat würde schließlich das Meer teilen. Als sie zurückkamen, brachten sie einige Wagen mit Verpflegung mit.
    Dann begann das große Warten. Agnes sah jetzt auch den Knaben Nicholas, wie er auf einem Wagen stand und nicht müde wurde, die Kinder auf das große Wunder der Teilung vorzubereiten. Die Kinder beteten. Einige beteten leise, andere schrien laut zu Gott. Aber die Tage vergingen, und das Meer teilte sich nicht.
    Nicholas hörte auf zu predigen. Der furchtbare Schmerz, den er zusammen mit den anderen durchlitten hatte, hatte sich wie ein Panzer um seine Seele gelegt. Er verbrachte die Nächte auf dem Bauche liegend auf den Felsen und starrte auf den Horizont. Man konnte sehen, wie die Hoffnung aus ihm langsam herausrann wie Wasser. Ohne Wasser kann man nicht leben. Er sah sehr krank aus, als hätte er hohes Fieber, und verdorrte von Tag zu Tag mehr.
    Agnes hatte großes Mitleid mit dem verirrten Jungen. Verzweifelt hielt sie nach Bruder Bernardo Ausschau. Wenn jemand es vermochte, Nicholas Zuversicht einzuflößen, dann er. Aber er war verschwunden. Agnes suchte ihn überall, aber niemand hatte ihn gesehen. Nach etlichen Tagen fand sie ihn doch. Weitab von den anderen saß er an einem menschenleeren Strand auf einem Felsen und schaute hinaus aufs Meer. Agnes näherte sich vorsichtig, sie wollte ihn nicht erschrecken. »Bruder Bernardo«, flüsterte sie.
    Der Mönch rührte sich nicht.
    »Bruder Bernardo«, wiederholte sie diesmal etwas lauter.
    »Ja, meine Tochter?«
    Agnes erschrak. Das war nicht mehr die Stimme, die sie aufgerichtet hatte. Aus ihr sprach die nackte Verzweiflung. Hatte nun auch dieser seelenstarke Mann aufgegeben? Doch noch mehr entsetzte es sie, als sie sah, dass der Mönch weinte. Lautlos rannen ihm die Tränen über das Gesicht und tropften von seinem Bart. Sie hockte sich neben ihn. Am liebsten hätte sie ihn umarmt und getröstet. Sie wollte so gern etwas zurückgeben, was er an ihr getan hatte, aber selbstverständlich gehörte sich das nicht.
    »Warum weint Ihr?«, fragte sie sanft.
    »Weil ich nun weiß, dass Gott mir nicht vergeben wird«, erwiderte er dumpf, ohne sie anzusehen.
    »Aber – aber das ist doch nicht wahr! Gott ist gütig, er kennt unsere Herzen, und auch das Eure. Er verzeiht alles, wenn man bereut.«
    Nie hätte Agnes gedacht, dass sie einmal so etwas sagen würde. In Mainz hatte sie eine Menge christlicher Sprüche zum Besten gegeben, um ihre Kreuze und Strohpuppen an den Mann zu bringen, doch diese Worte kamen aus einem ehrlichen Herzen.
    Bruder Bernardo schwieg.
    »Ihr werdet noch gebraucht«, fuhr Agnes leise fort. »Nicholas, in den die Kinder ihre Hoffnungen setzen, ist krank vor Verzweiflung. Er wird von Tag zu Tag schwächer. Er benötigt Hilfe, Eure Hilfe.«
    Jetzt sah Bernardo sie an. In seinen Augen lag immer noch Wärme, aber mehr noch Trauer. »Nein, ich kann ihm nicht helfen. Gerade ihm kann ich nicht helfen. Ich kann ihm nicht unter die Augen treten, denn ich habe mich an ihm versündigt.«
    »Ich weiß nicht, was Ihr ihm getan habt«, fuhr Agnes vorsichtig fort, »aber dieser Nicholas scheint kein verhärtetes Herz zu haben. Er wird Euch Eure Sünden verzeihen, und dann geht es Euch gleich besser.«
    Bernardo fasste nach ihrer Hand und hielt sie fest. »Meine Tochter. Es liegt nicht in seiner Macht, mir zu verzeihen. Nicholas hält mich für Jesus Christus.«
    Agnes schrie auf. »Nein!«
    »Doch. Und in meinem frevelhaften Dünkel habe ich alles getan, um ihn das auch weiterhin glauben zu lassen, denn ich wollte, dass er

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