Schatten eines Gottes (German Edition)
diesen Kinderkreuzzug anführt. Ich glaubte, einer guten Sache zu dienen, deshalb habe ich mich für den Herrn ausgegeben. Einen herzensguten Jungen habe ich zu diesem unsäglichen Unternehmen verleitet. Ich habe ihn getäuscht, die Hoffnung von Tausenden zerstört und unzählige Tote auf mein Gewissen geladen.«
Agnes war erschüttert über diese Beichte, aber sie konnte diesem Mann nicht zürnen. Er tat ihr leid aus tiefster Seele. Erst einmal wusste sie nicht, was sie ihm sagen sollte. »Ihr habt es doch aber gut gemeint«, sagte sie dann hilflos.
»Gut gemeint? Mein Hochmut hatte mich verblendet. Viele sahen in mir Jesus, unseren Herrn, und ich gefiel mir in dieser Rolle. Eine ungeheure Anmaßung hatte mich ergriffen. Langsam glaubte ich selbst, Gottes Sohn zu sein. Ich hoffte dennoch auf Gottes Vergebung, doch die Wasser teilen sich nicht, und jetzt weiß ich, dass es meine Schuld ist. Noch mehr Leid, noch mehr Elend und Hoffnungslosigkeit lässt er mich ertragen um meiner großen Sünde willen.«
Agnes konnte es nicht ertragen, diesen Bruder so hoffnungslos zu sehen. Sie hätte ihn so gern davon überzeugt, dass er sich einfach nur geirrt hatte und dass man für einen Irrtum, den man bereute, nicht so grausam bestraft würde. Sie hätte ihn gern wieder aufgerichtet, was sollte sie, was konnte sie für ihn tun, sie, eine Heidin?
»Ich habe niemals an die Teilung des Wassers geglaubt«, sagte sie. »Wir wissen doch alle, dass es ein Märchen ist. Wenn Ihr Menschen getäuscht habt, so sagt ihnen einfach die Wahrheit. Das wird Euch erleichtern.«
Bruder Bernardo lächelte sie an. »Ich weiß. Ich möchte es tun, aber ich bin zu schwach. Ich ertrage ihre enttäuschten Gesichter nicht. Nicht mehr. Nicht hier, wo sie auf das Wunder warten.«
Ich kann ihm nicht helfen
, dachte Agnes.
Er lebt in seiner Welt, sie ist nicht die meine. Als sich unsere Welten auf dem Mont Cenis berührten, war es wie ein warmer Strom. Es gibt Gemeinsamkeiten. Aber hier herrscht nur die Verzweiflung.
Plötzlich erinnerte sie sich an die Pergamente in ihrem Brustbeutel. Sie konnte es sich nicht erklären, aber etwas drängte sie, ihm diese zu geben. Sie wusste nicht, ob sie wichtig waren. Aber sie konnte ihm etwas schenken, diese Geste würde sie trösten und vielleicht auch ihn.
Sie reichte ihm die Schriftrollen. »Die hier, die habe ich gefunden. Ich trage sie seitdem mit mir herum. Ich kann sie aber nicht lesen. Bitte, nehmt sie. Ihr könnt mehr damit anfangen als ich.«
Bernardo nahm sie in die Hand. »Das ist ein sehr altes Pergament. Wo hast du es gefunden?«
Sie zuckte verlegen die Achseln. »In einem Holunderbusch.«
»Ich danke dir, oh ich danke dir, dass du nach dem, was ich dir gesagt habe, immer noch an mich glaubst. Wenn du es tust, dann habe ich die Hoffnung, dass Gott es auch tun wird.«
»Ich muss jetzt gehen«, sagte Agnes verlegen. »Ich werde nicht länger hier bleiben, denn eigentlich …« Sie zögerte. »Eigentlich habe ich auch alle getäuscht. Ich wollte nämlich nach Rom. Der Kinderkreuzzug war mir egal. Ja, jetzt wisst Ihr die Wahrheit.«
»Nun, es war sicher Gottes Weisheit, die uns beide zusammengeführt hat. Geh mit Gott. Und grüße mir das ewige Rom. Ich wünschte, ich könnte es auch einmal sehen.«
Mit Tränen in den Augen wanderte Agnes langsam den Weg zurück. Plötzlich hörte sie einen hellen Aufschrei, gefolgt von einem inbrünstigen dreifachen Halleluja. Sie schüttelte traurig den Kopf. Die Schuldgefühle hatten diesem guten Bruder wohl schon ein bisschen den Verstand verwirrt.
Sinan in St. Marien
Sinan war heimgekommen. Die beschwerliche Wanderung durch die wilde Eifel hatte ihn erfrischt und Staub und Unrat der Städte weggewaschen. Hier, wo eifernde Predigt weder Baum noch Blume beeindruckten und die Bergbäche sich jenseits christlicher Dogmen ungestüm ihren Weg durch tiefe Schluchten bahnten, galten die ewigen Gesetze des Himmels. Und wer sich ihnen unterwarf, der gedieh wie die Blumen auf dem Felde. Mithras war der Bund, den der Mensch mit den Kräften der Natur geschlossen hatte und wieder schließen musste. Er existierte seit ewigen Zeiten und gängelte niemanden. Er belohnte und bestrafte gerecht, denn jede Handlung, ob gut oder böse, trug jeweils ihren Lohn in sich.
Inmitten der Einsamkeit drang Sinan zu dieser tiefen Erkenntnis seines Glaubens vor. Hier entfaltete sich die Urform des Gottes, durchströmte ihn mit Heiterkeit und Wahrheit. Das, was ihn in der Welt hatte
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