Schatten eines Gottes (German Edition)
ich längst wieder bei dir.«
Emanuel gefiel diese Wendung nicht, aber Octavien war ein freier Mann, was sollte er dagegen vorbringen? »Ich verstehe dich. Aber sei bitte rechtzeitig zurück. Nathaniel wird nicht erfreut sein, wenn er dich bei seiner Rückkehr nicht antrifft.«
»Sei unbesorgt, ich werde mich beeilen.«
Die Gesichter der beiden Kartäusermönche hatten bei seinem Ansinnen einen missfälligen Ausdruck angenommen. Octavien sah ihnen an, dass sie ihn am liebsten mit Gewalt am Fortreiten gehindert hätten, doch sie wagten es nicht, ihn anzugreifen. Sie hatten nur für den Mönch ihre Befehle erhalten, über den jungen Ritter hatte der Meister kein Wort verloren.
Die Bücher sind ohnehin nichts für ihn
, dachte Emanuel, während er mit den beiden Mönchen den Ritt in die Wildnis antrat. Er würde sich in St. Marien nur langweilen. Und solange Nathaniel sich in Rom aufhielt, konnten sie wegen des Pergaments ohnehin nichts unternehmen, denn sie hatten nicht die geringste Spur.
***
Sinan lag nackt unter kühler Seide und betrachtete den Mond, der durch die zarten Schleier am Fenster in seine Schlafkammer schien. Er war allein mit der Nacht und seinen Gedanken, die herbeihuschten wie Fledermäuse. Nicholas! Der blonde Knabe mit dem Engelsgesicht. Hintergangen wie alle anderen, längst im Herzen ahnend, dass sie dem Untergang geweiht waren, war er den Kindern doch tapfer vorangeschritten. Wo mochte er heute sein? Erschlagen am Wegesrand? Oder in die Sklaverei verkauft? Wenn Sinan die Augen schloss, sah er ihn, wie er vor der Fischerschenke am Rheinufer tanzte. Was für ein süßes Gefühl, an ihn zu denken. Was für ein elendes Gefühl, ihn niemals wiederzusehen.
Ein Klopfen riss ihn unangenehm aus seinen Träumen. Ärgerlich erhob er sich, schlug sich die Decke um die Hüften und ging zur Tür. Sein Diener Masut stand davor. Er legte die Hände aneinander und verneigte sich. »Vergebung wegen der späten Störung, es sind zwei Mönche gekommen, die Euch sprechen müssen.«
»So spät noch? Was wollen sie?«
»Der Meister schickt sie. Sie sind soeben aus Rom eingetroffen.«
Sofort war Sinan hellwach. »Dann lasse sie nicht warten!«
Eine halbe Stunde später verließen die beiden Mönche sein Schlafzimmer. Sinan wusste nun, was der Meister von ihm erwartete.
***
Octavien hatte gelogen. Es zog ihn nicht nach Aachen. Während der ganzen Reise hatte er an Agnes gedacht. Ihr letztes Zusammentreffen war so plötzlich zu Ende gewesen. Bevor er die Gelegenheit gehabt hatte, sie von seinen Ansichten zu überzeugen, war die Sache mit dem Dieb passiert. Er war nach der vergeblichen Verfolgung nicht zurückgekehrt. Ob sie auf ihn gewartet hatte? Oder war sie so wütend gewesen, dass sie froh war, ihn los zu sein? Sie hatte etwas nach ihm geworfen, und im Grunde war sie schuld daran, dass der rothaarige Dieb entkommen konnte. Aber selbstverständlich war das Unsinn. Ein wahrer Ritter ließ sich nicht von Kirschkernen ablenken, so wie er es getan hatte.
An einem späten Nachmittag erblickte er die Türme von Mainz. Kurze Zeit später trabte er durch die Peterspforte. Sein Weg führte ihn auf den Marktplatz mit dem Brunnen, an dem er den Spielmann getroffen hatte. Er hatte ein lustiges Lied über König Richard zum Besten gegeben. Octavien lächelte bei dieser Erinnerung. Er ließ sich, ohne ihn abzuwischen, auf dem Brunnenrand nieder und streckte seine langen Beine wie ein Landsknecht von sich. Dann nahm er einen kräftigen Schluck aus seinem Wasserschlauch und wickelte eine gebratene Hasenkeule aus einem Leinentuch.
Abseits saß ein Hund und sah ihn schwanzwedelnd an. Octavien warf ihm die halb aufgegessene Hasenkeule zu und machte sich auf den Weg. Sein Quartier würde er wieder in der ›goldenen Traube‹ an der Stadtmauer nehmen. Aber er hatte es nicht eilig, denn ein bisschen fürchtete er sich vor dem Wiedersehen.
Er bemerkte es sofort: Ein anderer hockte an der Stelle, wo Agnes lautstark ihre unverzichtbaren Prachtstücke angeboten hatte: ein alter, gebeugter Mann, der Kräuter und Früchte anbot. Agnes war fort! Wie ein Stich durchfuhr Octavien diese Erkenntnis.
»Hier hat früher eine junge Frau gestanden«, wandte er sich barsch an den alten Mann, so wie er es einfachem Volk gegenüber gewohnt war. »Wo ist sie hin?«
Der alte Mann, durch schlechte Erfahrungen mit Höhergestellten verängstigt, begann gleich zu zittern und zu stottern. »Sie – sie hat ihn mir geschenkt, das ist die
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