Schatten eines Gottes (German Edition)
abirren lassen, war den Menschen geschuldet und der Hölle, die sie aus der Welt gemacht hatten. So war er selbst in diese Hölle hinabgestiegen, hatte gehasst und ohne Mitleid getötet. Freilich, auch die Natur kannte kein Mitleid, aber sie befleckte sich auch nicht mit bösen Taten, sie war so, wie Mithras sie gewollt hatte.
Es drängte Sinan, in seine alte Umgebung zurückzukehren, sich in einer angenehmen Atmosphäre von den Strapazen der Reise zu erholen, von aufmerksamen Dienern verwöhnt zu werden, ein Bad zu nehmen, gut zu speisen, alte Bekannte zu treffen und trefflich die Ereignisse des vergangenen Jahres zu erörtern.
Er sah das kleine Kloster hinter einem Hügel auftauchen, beschirmt von mächtigen Tannen des angrenzenden Waldes, in dem Neubabylon lag wie eine Perle in der Muschel. Die perfekte Stadt, erdacht und erbaut aus dem großen und guten Geist eines von Mithras beseelten Menschen. Erhaben und kühn wie Felsenzinnen, wie stolze Eichen und brausende Wildwasser. Schön wie die Blumen des Waldes, die silbrigen Schuppen der Fische, das bunte Gefieder der Vögel.
Oder wie das gewundene Haus einer Schnecke, dachte Sinan, hob eine vom Weg auf und setzte sie ins Gras. Er hatte es getan, ohne nachzudenken. War das jetzt eine gute Tat? Seine Lehrer hatten ihn gelehrt, Leid ohne sichtbare Gemütsbewegung zu ertragen. Er konnte kein Mitgefühl empfinden. Aber oft horchte er in sich hinein, denn irgendwann musste er Zeugnis ablegen. Du hast Böses getan. Was hast du dabei empfunden? Hast du auch Gutes getan? Wie hast du dich dabei gefühlt? Und welche Schlussfolgerung hast du daraus für dein zukünftiges Leben gezogen? Dann musste er bekennen, dass er nichts Gutes getan hatte, weil ihn das unberührt ließ. Nur die dunklen Gedanken hielten ihn lebendig.
Um sich selbst zu prüfen, hatte er die Kinder eingeladen, diese verwahrlosten, betrogenen Kinder! Sie zu speisen, war seine einzige gute Tat gewesen, und doch hatte er keine Befriedigung empfunden. War das die Eigenschaft des Guten, dass man es nicht herbeizwingen konnte? Und dann wusste er plötzlich, worin sich das Aufheben der Schnecke von der Speisung der Kinder unterschied: Er hatte es nicht getan, um jemanden zu täuschen. Nicht einmal sich selbst.
***
Bruder Chlodwig an der Klosterpforte strahlte vor Wiedersehensfreude und hieß ihn herzlich willkommen.
»Bitte benachrichtige die anderen Brüder von meiner Ankunft. Bevor ich sie begrüße, möchte ich mich im Mithräum etwas sammeln und betend auf die Begegnung vorbereiten.«
Sinan schritt über den Klosterhof und wusch sich am Brunnen den Staub von Gesicht und Händen. Er begegnete keinem Menschen. Als er den grottenartigen Tempel betrat, war es wie eine Rückkehr in den Mutterschoß. Hier hatte er seine ersten Jahre verbracht, hier hatte er die Weihen empfangen, und hier würde er, so Gott es wollte, bald die nächste Stufe erklimmen, die des Parsen, der mit dem Abendstern verbunden war und als Symbol das Hakenschwert hatte, das der Mondsichel abgeschaut war. Vor dem Bild des Mithras, der den Stier tötete, kniete er nieder. »Du, den keines Weibes Schoß gebar, Felsgeborener! Beherrscher des Himmels und des gesamten Universums, schenke mir deine Weisheit und die Kraft, vor dem Meister zu bestehen. Lasse mich deine Fackel sein, entflamme mich, damit mein Feuer die verworfene Welt von der Lüge reinige und dein Licht, das die Christen verfinstert haben, sie wieder erleuchte.«
Sinan trifft seinen Bruder
Emanuel hatte besorgt im Schutze der Ruine auf Octaviens Rückkehr gewartet. Erleichtert nahm er die maßvolle Antwort des Abtes zur Kenntnis. Er bedauerte nur, dass er Rom so bald wieder den Rücken kehren musste.
Zwei Kartäuser-Mönche begleiteten sie. Angeblich, damit sie sich auf dem Weg nach St. Marien nicht verirrten. Ihre Rückreise verlief ohne nennenswerte Zwischenfälle. Emanuel freute sich auf St. Marien, auf Neubabylon und die riesige Bibliothek. Ein Menschenalter würde nicht ausreichen, um alle ihre Schätze zu studieren.
Je weiter sie sich der Eifel näherten, desto schweigsamer wurde Octavien. Als sie im Begriff waren, die Hauptstraße am Rhein zu verlassen, überraschte Octavien sie mit einem Entschluss. »Ich war lange fort von zu Hause«, sagte er zu Emanuel. »Bevor ich nach St. Marien gehe, möchte ich mein Gut in Aachen aufsuchen. Ich möchte meine Mutter wiedersehen und ihr sagen, dass es mir gut geht. Ich bleibe nicht lange. Bis Abt Nathaniel aus Rom zurück ist, bin
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