Schatten eines Gottes (German Edition)
Zurückgeblieben sind nur die Kranken.«
Agnes betrachtete den Mönch jetzt genauer. Er hatte eine angenehme Stimme, in ihr schwang echtes Mitgefühl und nicht die Unbarmherzigkeit der meisten Mönche, die dem körperlichen Leid auf Erden gefühllos gegenüberstanden und das Wohlbefinden ausschließlich im Leben nach dem Tode suchten. Das schmale, bärtige Gesicht war schön, obwohl es von der Erschöpfung ausgezehrt war, und Agnes empfand einen tiefen Frieden, wenn sie es anschaute. Das war keine sinnliche Schönheit, dieser Mönch strahlte von innen heraus und spendete ihr Trost allein durch seinen warmen Blick. In diesem Augenblick war er ihr zugewandt, war sie gemeint. Und sie las Freude und die Zuversicht darin, dass sie genesen werde.
Sie konnte sich nicht erinnern, diesem Mönch auf dem Marsch begegnet zu sein, er wäre ihr bestimmt aufgefallen. »Seid Ihr ein Freund von – von diesem Nicholas?« Sie war dem Wunderknaben nie begegnet, weil er ihnen stets ein oder zwei Tage voraus gewesen war.
»Ja, das bin ich«, erwiderte er schlicht. »So wie ich auch dein Freund bin.«
Agnes lächelte. Ich muss furchtbar aussehen, durchzuckte es sie. »Ihr seid ein guter Mensch, das fühle ich.«
»Oh nein, meine Tochter, ich bin ein schlimmer Sünder und hier, um meine Sünden abzubüßen.«
Diese bei den Christen übliche Büßerei ging Agnes ziemlich auf die Nerven. Dieser Mönch hatte vielleicht einmal vergessen, das Vaterunser zu beten, und hielt sich deshalb schon für einen Wurm vor Gottes Angesicht. Schade, dass dieser Bruder genauso dachte wie die anderen.
»Ich weiß ja, dass alle Menschen Sünder sind«, log sie, »aber wenn Ihr schlimm seid, was bin dann ich?«
Der Mönch lächelte. Es war ein offenes und doch sehr trauriges Lächeln. »Du bist ein liebenswertes Menschenkind, vielleicht ein gefallenes, doch du kannst wieder aufstehen. Der Herr kennt die Herzen der Menschen, sie sind nicht aus Fels und nicht aus Stahl. Sie sind verführbar, der Herr weiß das und verzeiht, denn er ist gütig.«
»Ja wenn das so ist, dann wird er auch Euch verzeihen.«
»Das hoffe ich, doch meine Sünden wiegen schwerer. Mit einer Beichte und einem Reuebekenntnis ist es nicht getan. Ich muss tatkräftig daran mitwirken, meine Verfehlungen wiedergutzumachen. Doch ich muss mich jetzt um deinen kleinen Nachbarn hier kümmern.«
»Wie – wie ist Euer Name? Nur, damit ich Euch in mein Gebet einschließen kann.«
»Ich bin Bruder Bernardo von den minderen Brüdern.«
***
Als Agnes nach zwei Wochen das Fieber besiegt hatte und sich wieder kräftig genug fühlte, den Weg fortzusetzen, war sie fest davon überzeugt, dass sie ihre Genesung nur Bruder Bernardo zu verdanken hatte. Sie fragte sich immer wieder, weshalb ein so warmherziger Mensch sich in einer so gewalttätigen und mitleidlosen Kirche wohlfühlte, die nichts dabei fand, Hunderte, ja Tausende von Kindern in den Tod zu schicken. Ihn danach zu fragen, wagte sie aber nicht, sie fürchtete, ihn damit zu verletzen.
Immer wieder hielt sie während des Marsches Ausschau nach ihm. Sie hatte das Empfinden, in seiner Gegenwart könne ihr nichts Böses widerfahren, sie bot Geborgenheit, und Agnes spürte, wie sehr sie danach hungerte. Aber der Bruder musste sich um viele kümmern, denn nur wenige Mönche waren mit ihm bei den kranken Kindern zurückgeblieben. Er war abgemagert und hohlwangig wie alle, aber ihn beseelte nach wie vor eine wunderbare Stärke. Für jeden hatte er ein gutes Wort, und stets vermittelte er das Gefühl, für diesen einen da zu sein. Wenn Agnes ihn zu Gesicht bekam, dann belebte neue Kraft ihre müden Glieder, sie schöpfte wieder Mut und sagte sich, dieser Leidensweg werde bald zu Ende sein.
Als der Zug die große grüne Ebene der Lombardei erreichte, wo die Luft mild war und der Himmel ewig blau zu sein schien, glaubten die Kinder, bereits einen Zipfel des Paradieses erhascht zu haben. Und als sie an das Meer kamen, da waren alle Entbehrungen vergessen. Die riesige Wasserfläche war ein ebenso gewaltiger Anblick, wie es die schneebedeckten Gipfel der Alpen gewesen waren, jedoch diesmal roch es nach Freiheit, denn dort hinter dem Horizont musste es liegen, das goldene Jerusalem. Alle erinnerten sich an das Versprechen, das Nicholas ihnen gegeben hatte:
Das Meer wird sich vor uns teilen, und wir werden einfach trockenen Fußes nach Jerusalem hinübermarschieren.
Die Kinder stürmten jauchzend an das Ufer und stürzten sich in die Fluten. Auch
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