Schatten eines Gottes (German Edition)
was er sagte: »Ich bin es nicht, ich bin nicht der Herr, ich verkündige nur seine Gebote.«
Aber die Menschen hörten ihm nicht zu. Jetzt konnte Octavien sein Gesicht sehen. Es kam ihm bekannt vor.
Da packte Emanuel ihn jäh an der Schulter. »Bei Gott!«, rief er. »Es ist Bruder Bernardo!«
»O ja, du hast recht. Du warst mit ihm zusammen in Altenberg. Er sieht tatsächlich wie Jesus aus. Schon damals ist mir das aufgefallen.«
Der Mönch hatte seinen Namen gehört und wandte sich um. Obwohl Emanuel weltliche Kleidung trug und seine Tonsur kaum noch zu erkennen war, erkannte Bernardo ihn sofort. »Bruder Emanuel! Du bist es wirklich! Wie freue ich mich, dich zu sehen.«
»Bruder Bernardo«, flüsterte Emanuel ihm eindringlich zu, »ich muss dich sprechen, es ist sehr dringend, aber allein.«
Bruder Bernardo lächelte und schaute sich um. »Das wird nicht einfach sein.«
»Es muss sein. Es ist von höchster Wichtigkeit.«
»Ich wohne im Hospiz der Benediktiner neben San Cristoforo. Komme nach der Komplet.«
Bevor Emanuel antworten konnte, war Bernardo wieder in der Menge verschwunden.
»Du kennst den Mann?«, fragte Sinan. Seine Stirn war umwölkt.
»Ich kenne ihn aus Köln, er ist ein guter Freund.«
»Und weshalb willst du ihn allein sprechen? Wegen des Pergaments?«
»Du kannst gern mitkommen. Ich habe keine Geheimnisse vor dir. Entweder er besitzt es, oder er hat Kenntnis davon erhalten. Er predigt genau das, was es enthält: das Vermächtnis Jesu an seine Jünger beim heiligen Abendmahl, die neuen Zehn Gebote.«
Obwohl Sinan kein Christ war, leuchtete ihm sofort ein, welche Bedeutung diesem Pergament zukam, welche Folgen es in den falschen Händen hätte und was für ein Instrument es in den Richtigen wäre. Bei sich hatte er stets an der herausragenden Bedeutung dieses Pergaments gezweifelt. Die Christen waren bekannt dafür, wertlose Dinge wie Körperteile, Kleidungsstücke oder andere Gegenstände von Personen, die in der Bibel erwähnt wurden, anzubeten und zu verehren. Er fand das lächerlich. Was kümmerte die Bruderschaft ein Fetzen dieser Ungläubigen?
Nun aber wusste er, weshalb dem Meister so an dieser christlichen Schrift gelegen war, und es reute ihn, an der Weisheit des Meisters gezweifelt zu haben.
»Wenn er es hat, muss er es herausgeben. Es gehört dem Meister.«
»Einen Augenblick, mein Freund«, mischte sich Octavien ein. »Wem es gehört, das wird sich finden. Als ich mich auf die Suche nach einer Reliquie machte, tat ich das nicht für Euren Meister. Erst einmal gehört es den Tempelrittern, die es aus Outremer mitbrachten. Wenn Guillaume de Chartres, unser Großmeister, es Nathaniel aushändigen möchte, dann ist das seine Entscheidung.«
Sinan neigte leicht das Haupt. »Ihr habt natürlich recht, Octavien.«
Emanuel bemerkte, wie angespannt Sinan unter seiner unbeteiligten Miene war. Er vermutete, sein unterdrückter Zorn würde jetzt Steine sprengen.
»Er erwähnte San Cristoforo«, sagte Emanuel. »Wir sollten uns noch vor der Komplet eine Unterkunft suchen.«
»Wie stellst du dir das vor?«, fragte Octavien. »In Lucca wird alles belegt sein.«
»Kaum«, meinte Sinan, »das hier sind lauter arme Schlucker, die draußen auf den Feldern nächtigen werden. Im Notfall überreden wir den Herbergswirt hiermit, ein paar seiner Gäste vor die Tür zu setzen.« Er hielt eine goldene Münze hoch. »Die Diener schlafen in der Kutsche und passen auf unsere Tiere auf.«
Aber aus den überfüllten, engen Gassen rings um den Domplatz gab es kein Entrinnen. Wie eine Flutwelle hatte sich die leibhaftige Anwesenheit des Herrn bis in die letzten Reihen ausgebreitet und die Menschen in Aufruhr versetzt. Bei den weiter entfernt Stehenden, die IHN noch nicht gesehen hatten, verbreiteten sich unglaubliche Gerüchte. Er sei in einem Flammenstrahl vom Himmel herabgestiegen und habe das goldene Jerusalem auf Erden verkündet.
Kinder wurden gegen die Mauern gequetscht, Betende umgerissen. Einige liefen mit erhobenen Händen und zerrauften Haaren durch die Menge und prophezeiten, das Ende der Welt sei gekommen. Andere wurden vor Entzückung von Krämpfen heimgesucht oder warfen sich heulend zu Boden. Über alle stolperten, trampelten und stampften in heiliger Ekstase Hunderte von Füßen. Emanuel bangte um Bernardos Leben.
Die Wenigen, die ihre Vernunft zur Hilfe nehmen und ihr Heim aufsuchen wollten, blieben rettungslos in den verstopften Gassen stecken und mussten schweißgebadet und
Weitere Kostenlose Bücher