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Schatten eines Gottes (German Edition)

Schatten eines Gottes (German Edition)

Titel: Schatten eines Gottes (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Ahrens
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lief er ihnen fluchend hinterher.
    Am Stadttor herrschte großes Gedränge. Doch plötzlich gab es ein entsetztes Geschrei, die Menschen wichen zurück, strebten auseinander. Es entstand eine Lücke, in die Sinan und Emanuel vordrangen, und Octavien folgte keuchend. Dabei stolperte er über einen Mann, der am Boden lag. Er blutete aus einer Bauchwunde. Zeit, sich um ihn zu kümmern, blieb Octavien nicht, er wurde von dem Opfer abgedrängt und hatte Mühe, seine Begleiter wiederzufinden.
    Hier soll angeblich Jesus Christus predigen, wer mordet an diesem Ort?,
fragte sich Octavien flüchtig, während er sich vorwärts schob und versuchte, dem Geruch der schwitzenden Leiber mithilfe eines Tuches vor der Nase zu entgehen. Er hatte beinah den Domplatz erreicht, als ihm wieder eine Wand aus Leibern den Weg versperrte. Und wieder geschah das gleiche wie am Tor. Die Menge glitt auseinander, und am Boden lag ein toter Mann in seinem Blut.
    Wer zum Henker
 – doch blitzartig überkam Octavien eine furchtbare Erleuchtung. Er ahnte, wer ihnen da auf so wundersame Weise einen Weg bahnte, und er begann zu fluchen wie ein Söldner. Doch das verbaten sich seine Nachbarn, sie beschimpften ihn ihrerseits, weil er es wagte, in Gegenwart des Heilands zu fluchen.
    Aber wo war der Heiland? Der Platz vor dem Dom war hoffnungslos überfüllt, bis hinein in die kleinen, engen Gässchen drängte sich das Volk. So voll war es nicht einmal zu Ostern, dem höchsten christlichen Feiertag. Dennoch versuchten die Stadtväter offensichtlich, etwas Ordnung in das Chaos zu bringen.
    Die Männer sollten den Frauen mit Kindern Platz machen, die Jungen den Alten. Für die Kranken und Gebrechlichen waren ein paar Sitzgelegenheiten geschaffen worden, um die ein heftiges Gerangel entstand. Lahme und Greise entwickelten plötzlich Kräfte, die ihnen niemand mehr zugetraut hätte, sie verteidigten ihre Sitzplätze mit Stockhieben und Fußtritten. Frauen rammten Männern ihre Ellenbogen in die Seite, um einen Platz ganz vorn zu ergattern, und Kinder schlängelten sich kriechend durch einen Wald von Beinen.
    Octavien war es gelungen, sich weiter nach vorn zu schieben und zu Emanuel und Sinan aufzuschließen. Emanuel starrte auf den Platz, hatte er von den Morden nichts bemerkt? Sinan nickte ihm zu, Octavien konnte nicht die geringste Gefühlsregung bei ihm entdecken.
    Irgendjemand hatte eine kleine Tribüne aufgebaut. Dort stand ein Mann in einer braunen Kutte.
    Ein Mönch! Einer von den Bettelbrüdern!,
ging es Octavien enttäuscht durch den Kopf. Der Mann sprach zu den Leuten, aber er war zu weit weg, Octavien konnte kaum etwas verstehen. Aus den vordersten Reihen kamen Hallelujarufe, er hörte Weinen und Schluchzen, viele warfen sich zu Boden oder verbargen ihr Gesicht in den Händen. Octavien bemerkte einen großen starken Kerl, der heftig schluchzte und mit den Fäusten den Boden bearbeitete, offenbar, weil er sich nicht die Haare raufen konnte, denn sein kahler Schädel leuchtete wie der volle Mond.
    Was hatte der Mönch da vorn an sich, dass sie ihn für Christus hielten? Was sagte er zu den Menschen? War er ein Visionär so wie jener Knabe Nicholas, der letztendlich auch alle nur ins Verderben geführt hatte?
    Octavien tippte Emanuel auf die Schulter. »Wir müssen noch näher heran.«
    »Unmöglich«, murmelte Emanuel, und auch Sinan schüttelte stumm den Kopf. Aber dann wurden die Worte des Mannes von Mund zu Mund weitergetragen. Wortfetzen, Satzfetzen wurden verständlich. Plötzlich stieß Emanuel einen krächzenden Laut aus, sein Gesicht wurde aschgrau. Auch Octavien hörte nun, was sich die Leute um ihn herum erregt zuriefen: Du sollst Gottes Schöpfung beschützen und bewahren. Du sollst kein Wesen gering achten.
    »Das sind doch die neuen Gebote!«, stieß er hervor. »Wie kommt ein Franziskanermönch an diesen Text?«
    »Das Pergament. Er muss das Pergament besitzen«, keuchte Emanuel.
    »Wer besitzt das Pergament?«, mischte sich Sinan ein. »Der Mönch?«
    Die Männer antworteten nicht.
    Jetzt stieg der Mann von der Tribüne und mischte sich unter das Volk. Trotz der vielen Menschen lag plötzlich eine andächtige Stille über dem Platz. Der Mann verwandelte seine Umgebung in anbetendes Schweigen. Wo er vorüberkam, teilte sich die Menge vor ihm wie das Korn vor dem Schnitter. Die Menschen fielen auf die Knie und küssten tränenüberströmt sein Gewand. Er blieb oft stehen und sprach zu ihnen. Als er näherkam, konnte Octavien verstehen,

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