Schatten eines Gottes (German Edition)
Gehörten. »Wie wunderbar sind doch Gottes Wege!«, stieß er hervor. »Sie sind verschlungen, für uns Menschen oft rätselhaft, aber sie führen immer zum Ziel. Die Pergamente, das Original und die Übersetzung, wurden mir geschenkt zu einem Zeitpunkt, da ich verzweifelt war. In meiner höchsten Not sandte mir Gott diese Frau, die mit uns den beschwerlichen Weg über die verschneiten Alpenpässe gegangen war. Sie meinte, sie gehörten ihr nicht, sie wüsste nichts mit ihnen anzufangen, denn sie konnte sie natürlich nicht lesen. Sie hat sie in einem Holunderbusch gefunden. Ich …«
»In einem Holunderbusch?«, unterbrach Octavien ihn hastig. Vor seinen Augen entstand sofort ein Bild. Kirschkerne an seinem Kopf, ein Kiesel in seinem Rücken, eine schimpfende Frau, kurze Unaufmerksamkeit, ein Junge, der sich mit dem Päckchen aus dem Staub machte, vorbei an ihrem Stand, vorbei an Agnes! Und neben ihrem Stand befand sich ein mächtiger Holunder. Bei Gott, wenn das stimmte, dann hatte er den Falschen verfolgt. Dann waren die Pergamente von Anfang an bei Agnes gewesen. Er hätte bloß zu ihr zurückzukehren brauchen, dann wären ihnen all die Aufregungen erspart geblieben. War es wirklich Gottes Wille oder seine eigene Feigheit gewesen?
»Was hast du denn, Octavien?«, fragte Emanuel besorgt.
»Ich glaube, mir ist schlecht«, murmelte Octavien.
»Soll ich Euch einen Kräuterschnaps bringen?«, bot Bernardo freundlich an.
»Nein, nein, danke, es geht schon wieder.«
Er hätte Bernardo zu dieser Frau gern hundert Fragen gestellt, aber in Emanuels Gegenwart wagte er es nicht.
»Ein Holunderbusch hat ihn aus der Fassung gebracht«, bemerkte Emanuel kopfschüttelnd.
Bernardo nickte und lächelte. »Ist es nicht, als habe Gott sein Vermächtnis einfach hineinfallen lassen? In einen schnöden Holunderbusch? Und so gibt er den Dingen und Menschen eine Bedeutung, die sie in unseren Augen vorher nicht hatten.«
Emanuel räusperte sich. »Nun, ich nehme an, du willst uns das Original nicht geben?«
»Du musst das verstehen, Emanuel. Es wurde mir von Gott anvertraut. Ich kann es nur herausgeben, wenn Gott selbst es mir befiehlt.«
»Ihr glaubt also, Gott spricht zu Euch persönlich?«, wunderte sich Octavien.
»Natürlich, er spricht zu jedem Menschen, der ihm sein Ohr öffnet. Zu Euch nicht?«
»Eher selten«, murmelte Octavien.
Emanuel sah ein Problem auf sie zukommen, und Bernardo würde es nicht verstehen. So wie die Dinge lagen, würde er eher den Märtyrertod sterben, als das Pergament herauszugeben. Sinan würde dafür nicht viel Verständnis aufbringen. Er ahnte nun, wer es in Besitz hatte, und er würde keine Mittel scheuen, es an sich zu bringen. Emanuel fasste einen Entschluss und hoffte, Octavien werde ihm zustimmen.
»Bruder Bernardo, ich respektiere deine Beweggründe, und tatsächlich sollten wir Gottes Wege nicht verlassen, nur bleiben sie uns oft verborgen. Wir sind auf dem Wege nach Rom, und ich glaube, dass deine Predigt erst dort vor den Ohren des Papstes ihre rechte Wirkung entfalten wird. Wo, wenn nicht in dieser heiligen und gleichzeitig so verdorbenen Stadt könnte sie heilsbringender sein? Über das Pergament entscheidest du allein, aber vielleicht löst sich der Knoten in Rom von selbst? Deswegen bitte ich dich, uns zu begleiten.«
Emanuel hatte gefürchtet, auf Ablehnung zu stoßen, aber Bernardo war sofort begeistert. »Rom war stets mein Ziel, es ist die Stadt, wo Petrus und Paulus gewirkt haben, wo sie beide den Märtyrertod erlitten haben. So Gott will, vergönnt er auch mir diese Ehre.«
***
Es war bereits nach Mitternacht, als Emanuel und Octavien aus dem Hospiz traten. Trotz der späten Stunde lungerten überall noch Menschen herum, sie wussten, wo der Herr übernachtete. Sie warteten auf den ersten Sonnenstrahl und darauf, dass er sich wieder zeigen würde. Aus dem Dunkel schoss eine Gestalt auf sie zu. Octaviens Hand fuhr zum Schwert, doch dann erkannte er Sinan.
»Habt ihr es?«, zischte er.
»Habt Ihr eine Unterkunft für uns gefunden?«
»Zur Hölle, ja! Das war ein Kinderspiel für mich. Nun sagt schon, hat er das Pergament?«
»Er besitzt die lateinische Übersetzung«, erwiderte Emanuel ausweichend.
»Dann weiß er auch, wo das Original ist. Der falsche Jesus will es nur nicht herausrücken. Gottverflucht! Warum war ich nicht dabei? Aber der verwünschte Türhüter wollte mich nicht einlassen. Wie einen Trottel hat er mich vor dem Tor warten lassen.«
»Das tut
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