Schatten eines Gottes (German Edition)
seine Leistung sein. Aber der Tüchtigste ist auch der Bescheidenste, denn er kennt seinen Wert.«
Octavien kam herbeigeschlendert. »Hier seid ihr und schwätzt, während ich die Kuchenkrümel zähle?« Dann bemerkte er Emanuels Blässe. »Was ist denn vorgefallen?« Er sah Sinan an.
»Nichts, nur eine kleine Auseinandersetzung zwischen Brüdern.«
Emanuel klopfte verlegen den Staub aus seiner Kutte. »Wie schön, dass du gekommen bist, Octavien. Ich hoffe, wir reisen bald ab.«
»Das wäre mir nur recht. Keinen von uns hält es hier augenblicklich. Sinan verriet mir, er müsse dringend nach Rom, mich zieht es ebenfalls dorthin, und du kannst uns begleiten, wenn du willst.«
Emanuel war entsetzt. »Nach Rom? Weshalb nach Rom? Wir kommen gerade von dort.«
»Na und? Wie du dich erinnerst, mussten wir recht überstürzt abreisen. Du hast nicht einmal die Hälfte der Stadt gesehen.«
»Aber du! Was willst du dort?«
»Mich umsehen. Es ist eine Stadt, die einem viel zu bieten hat«, wich Octavien aus.
»Er will dort deine kleine Hexe treffen, Sarmad«, spottete Sinan. »Ich hoffe nicht, dass du uns beide jetzt mit deinem Geschwätz von Satan und anderen unangenehmen Personen langweilen willst.« Er warf Octavien einen entsagungsvollen Blick zu. »Er hat uns belauscht, er weiß alles.«
»Oh!«, Octavien errötete leicht. »Tut mir leid, ich hätte es dir bestimmt noch gesagt.«
»Ich fasse es nicht!«, stieß Emanuel hervor. »Diese Straßenhändlerin! Diese Dirne! Du stellst so einer nach? Dabei glaubte ich bisher, du hättest Standesbewusstsein.«
Octavien lächelte. »Dünkel, Emanuel. Du hast es immer Standesdünkel genannt. Aber vielleicht habe ich mich ja geändert.«
Die Predigt in Lucca
Kurz nach Genua hörten sie zum ersten Mal von dem Gerücht, und es schien sich wie ein Sandsturm zu verbreiten. In jedem Dorf, das sie passierten, sprach man davon. In Piacenza hatte man ihn gesehen, aber auch in Parma wollte man ihn gesichtet haben und sogar in Ravenna. Nein, nun war er bereits in Bologna. Würde er auch Florenz besuchen? Und Rom? Natürlich, Rom! Wehe euch, ihr Natterngezücht! Er ist gekommen, das Heilige Land zu befreien, er ist der wahre Kreuzzug!
Von den Dörfern machten sich viele Menschen auf den Weg in die nächste Stadt. Es war, als hätte sie ein neuer wahnwitziger Taumel erfasst wie die unseligen Kinder, von denen die meisten, so hörte man, von Sklavenjägern auf Schiffen in den Orient verschleppt worden seien. Lahme hatten zu ihren Stöcken gegriffen, Mütter ihre Säuglinge auf den Rücken gebunden, um dabei zu sein, wenn das Wunder geschah und Gott leibhaftig unter ihnen weilte. Denn nicht ein gewöhnlicher Wanderprediger sei da unterwegs, hieß es. Nein. Es sei Jesus Christus selbst. Er sei auf die Erde zurückgekehrt und predige eine neue Lehre.
»Warum ausgerechnet hier«, murrte Octavien, der mit Sinan der Kutsche voranritt, in der Emanuel reiste. Er mochte keine überfüllten Landstraßen.
»Und was unternimmt die Kirche gegen diesen Aberglauben?«, stellte Sinan die rhetorische Frage. »Nichts. Sie lässt diese Meute herumrennen, geifern und beten, bis sie Schaum vor dem Mund hat.«
»Den armen Teufel werden sie bald erwischen, bei Gotteslästerung droht ihm der Scheiterhaufen.«
Sie hatten es schon geahnt. Vor Lucca ging nichts mehr. »Er predigt auf dem Amphitheaterplatz!«, schrie jemand. »Nein, vor dem San-Martino-Dom!«, ein anderer.
In Octavien kamen unangenehme Erinnerungen hoch. »Scheint so, dass dieser Eiferer sich in Lucca aufhält«, meinte Octavien. »Wir sollten einen Bogen um die Stadt machen.«
Die Kutsche war zum Stehen gekommen, Emanuel stieg aus. Er hatte Octaviens Worte gehört. »Nein, ich möchte den Mann sehen.«
»Wozu?«, belferte Sinan. »Das Geschwätz eines Verrückten hat für uns keine Bedeutung, oder glaubst du auch, dass Jesus persönlich erschienen ist?«
»Natürlich nicht. Aber wer so viel Aufmerksamkeit auf sich zieht, muss etwas Besonderes haben. Dieses Besondere interessiert mich.«
Octavien machte eine ausholende Armbewegung. »Du verlangst von uns, dass wir uns in dieses Gewühl werfen?«
»Nein. Ich gehe allein. Ihr könnt auf die Kutsche und die Pferde aufpassen.«
»Hör mal, wir sind nicht deine Lakaien!«
»Aufpassen können die Diener«, mischte sich Sinan ein. »Ich bahne euch den Weg. Ihr braucht mir nur zu folgen.«
»Ohne mich!«, rief Octavien, aber als er Emanuel und Sinan in der Menschenmenge verschwinden sah,
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