Schatten eines Gottes (German Edition)
aber seinerseits einige Gesprächsfetzen auf. Innerhalb kurzer Zeit sah er klarer, aber diese Klarheit trug erst recht dazu bei, seinen seelischen Zustand zu verdüstern.
Innozenz war hier in San Pietro einem Fieber erlegen. Seine Krankheit war auch der Grund für den hiesigen Aufenthalt und die Geheimnistuerei. Er war zu schwach gewesen, um noch bis nach Perugia zu reisen. Ärzte, die man von dort geholt hatte, konnten nichts mehr für ihn tun, denn Gott hatte beschlossen, den großen Innozenz abzuberufen. Dann hatte man offensichtlich in aller Eile einen neuen Papst gewählt, und die Wahl war auf Nathaniel gefallen. Der Meister hatte die Umstände klug und umsichtig für seine Ziele eingesetzt und sie erreicht. Er war Papst geworden. Für einen Tag.
Die Ironie des Schicksals war so bizarr, so fratzenhaft lächerlich, dass Sinan an einen bösartigen Kobold glauben wollte, der hier tückisch Kurzweil mit ihm getrieben hatte. Ihn fröstelte, obwohl es eine milde Nacht war. Im Schein der Kerzen entdeckte er plötzlich ein bekanntes Gesicht. Der Kardinal Adriano de Castello war ein Mitglied der Bewegung und mit dem Meister befreundet gewesen. Sinan kannte ihn flüchtig. Er entfernte sich langsam von den Mönchen und trat ihm mit gesenktem Haupt in den Weg. »De Castello«, flüsterte er. »Ich bin Sinan al Karim, wir sind uns in Rom manchmal begegnet.«
Der Kardinal blieb verblüfft stehen. »Sinan? Natürlich kenne ich dich. Was tust du hier?«
Sinan lüftete ein wenig die Kapuze. »Der Meister bat mich darum, ihn zu begleiten, natürlich unerkannt. Er befürchtete allerlei Widrigkeiten auf der langen Reise nach Pisa, äußerte aber nichts Bestimmtes.«
De Castello nickte bekümmert. »Schon immer wollte es mir erscheinen, als sei er in besonderem Maße hellsichtig gewesen. Nun ist der große Meister von uns gegangen. Die Tragödie ist kaum zu überbieten. Der Tag seines Triumphes, unseres Triumphes, war auch sein Todestag. Und wir glaubten, alles perfekt durchdacht zu haben.«
»Hat man denn schon einen Verdacht, wer ihn ermordet haben könnte?«, fragte Sinan leise.
»Nein, keinen Konkreten. Aber seine Gegner sind natürlich in den Reihen der Kardinäle zu suchen. Die meisten haben ihm die Papstkrone nicht gegönnt.«
»Weshalb haben sie ihn dann gewählt?«
»Das haben sie nicht. Diesmal wurden zwei von uns benannt, die den nächsten Papst ernennen sollten. Für eine reguläre Wahl war keine Zeit. Ich war einer von ihnen. Der andere war Ugolino von Ostia, der dem Meister ebenfalls gewogen war, obwohl er nicht der Bewegung angehört. Nun sind wir beide aufgerufen, den nächsten Papst zu wählen.«
Wer der nächste Papst wurde, interessierte Sinan nicht. Das alles hatte keine Bedeutung mehr für ihn. Er wusste nur eins: Er selbst hatte der Bewegung, für die er gelebt hatte, den Todesstoß versetzt.
»Der Meister – welchen Papstnamen hat er angenommen?«
»Sebastianos I. Er verglich dich gern mit unserem Heiligen Sebastian, du glichest ihm in seiner jugendlichen Schönheit und seinem Mut.«
Das hätte Sinan besser nicht erfahren. Nun wusste er, dass der Meister ihn geliebt hatte. Zwiefach schändlich, sein Mörder gewesen zu sein. Sinan spürte ein Würgen in der Kehle, beinahe hätte er laut aufgeschluchzt.
»Aber …« de Castello sah sich vorsichtig um, dann flüsterte er Sinan zu: »Du musst das ganz schnell vergessen. Niemand darf es erfahren, verstehst du? Es hat diesen Papst niemals gegeben. Er wird nicht in den Annalen verzeichnet sein.«
»Warum nicht?«
»Weil dieser Mord kein gutes Licht auf die Kirche werfen würde.«
»Aber was geht uns die Kirche …«
»Leise! Wir können uns in dieser Situation nicht offen gegen sie stellen. ›Mit den Wölfen heulen‹, den Spruch kennst du sicher. Wenn die Bewegung Bestand haben soll, dann müssen wir uns klug verhalten. Eine zerschlagene Bewegung nützt niemandem.«
Von dieser Rücksichtnahme hatte Sinan schon oft gehört, und stets hatte sie ihn verdrossen, doch diesmal trug er selbst die Schuld an der Niederlage, und er schwieg.
»Was wirst du jetzt tun?«
»Ich gehe nach Neubabylon. Mein Platz ist jetzt dort. Ein neuer Meister muss gewählt werden.«
»Ja, du hast recht. Wir dürfen nicht aufgeben. Aber wir wussten, dass unser Weg mit spitzen Steinen gepflastert sein würde.«
In diesem Augenblick wurde die Bahre mit Nathaniels Leichnam aus der Kapelle getragen, und Sinan wandte sich fluchtartig ab. Er vermochte es nicht, seiner
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