Schatten eines Gottes (German Edition)
hineinpasst.«
Emanuel legte das Buch auf einen Schemel, denn das Essen wurde gebracht. »Wissen stopft nicht aus, Wissen erweitert.«
»Und was machst du, wenn du alle Bücher der Welt gelesen hast?«
»Dazu reicht ein Menschenleben nicht aus.«
»Ich fürchte, wenn du fünfhundert Jahre alt wirst, würde ich dich mit vierhundertachtundneunzig noch immer vor einem Buch sitzen sehen.«
»Es gibt nichts Besseres.«
»Doch. An deinem Wissen andere teilhaben zu lassen. In deinem Kopf um sich selbst kreisend, nützt es niemandem und wird mit dir zu Grabe getragen.«
Emanuel seufzte. »Noch weiß ich zu wenig. Und herumgereist bin ich schon genug.«
»Du bist ein Stubenhocker. Unsere Mission ist es nicht, hier Wurzeln zu schlagen, sondern die Idee der Bewegung draußen lebendig zu erhalten, damit sie Früchte trage.«
»Früchte?« Emanuel blies verächtlich Luft durch Nase. »Von langen Fußmärschen Blasen an den Füßen, vom Reiten Schwielen am Hintern, dünne Strohmatten voller Ungeziefer und Raubgesindel in den Wäldern, das sind die Früchte, von denen man sich auf Reisen ernähren muss. Ich bewege mich nicht eine Handbreit von hier weg. Von meinem kleinen Paradies.«
»Warte nur, bis der Meister zurückkommt. Der wird deiner Trägheit schon Beine machen, und wenn ich selbst dafür sorgen muss.«
Während sie sich unterhielten, lächelten sie, denn alles blieb nur Geplänkel. Beide meinten das, was sie sagten, zwar ernst, aber stets mit einem zwinkernden Auge. Tatsächlich war Neubabylon für die beiden ein Paradies, denn niemand störte sich an ihrer Liebe, niemand wäre es eingefallen, sie zu verbieten oder zu ächten. Beide Männer wussten, dass es für sie in der Welt so einen Platz nirgendwo gab. Dennoch wäre Bernardo gern wieder über die Landstraßen gezogen, um zu predigen. Er war begeistert von den neuen Ideen, die hier erörtert wurden, und wollte sie unter die Menschen bringen.
Da trat Balthasar an sie heran und meldete einen Besucher.
Ein Besucher? Emanuel war überrascht. Ein Besuch in dieser Abgeschiedenheit war sehr selten. Jemand aus Neubabylon konnte es nicht sein, den hätte Balthasar nicht so förmlich als Besucher bezeichnet. Einer von draußen also und ein Mitglied der Bewegung, sonst würde man ihn nicht in die Stadt lassen. Außerdem ein ihm selbst geltender Besuch. All das ging Emanuel innerhalb von Sekunden durch den Kopf, und sein Herz klopfte freudig erregt, denn es konnte sich nur um einen handeln: Octavien!
Und da kam er auch schon über den Kiesweg herangeschritten. Emanuel sprang auf und eilte ihm entgegen. Die Männer umarmten sich herzlich. Bernardo war sitzen geblieben und beobachtete die beiden schmunzelnd. Wie glücklich machte es Emanuel, den Gefährten gemeinsamer Abenteuer wiederzusehen! Bernardo empfand das gleiche Glück und spürte einmal mehr, dass er Emanuel liebte.
Octavien kam mit Emanuel auf die Terrasse und nickte dem jungen Mann zu, der dort vor halb geleerten Schüsseln saß. Offensichtlich störte er Emanuel gerade beim Essen mit einem Mitbruder der Bewegung.
Bernardo erhob sich. »Octavien! Wie schön, dass du zu uns gefunden hast.« Er streckte zum Willkommen beide Arme aus. Doch Octavien ergriff sie nur zögerlich. Kannte er diesen Mann?
Octaviens verwirrter Gesichtsausdruck veranlasste Bernardo zu einem verständnisvollen Lächeln. »Ich bin Bruder Bernardo vom Franziskanerorden. Ja, ja, ich habe mich wohl ein wenig verändert.«
»Bernardo?« Octaviens Augen wurden groß. »Der aus Lucca? Der dort gepredigt hat?«
»Eben der.« Bernardo wies auf einen Korbstuhl. »Setz dich zu uns. Du musst müde sein von dem anstrengenden Weg zu uns herauf.«
Octavien musterte Bernardo eingehender. Er vermochte es nicht zu glauben, nur die Augen! Ja, an seinen Augen erkannte er ihn, sie strahlten immer noch, wie von einer inneren Glut beseelt. Beschämt umarmte er ihn und drückte ihn an sich. »Bernardo! Ich glaubte, du seist tot. Verrottet in Roms Kerkern. Bei allen Heiligen, wie hast du den Weg nach Neubabylon gefunden?« Er warf Emanuel einen Blick zu. »Ist das dein Verdienst?«
Der schüttelte den Kopf. »Bernardo stand eines Tages vor den Toren von St. Marien. Er würde dir sagen, es sei Gott gewesen, der ihn hergeführt hat.«
Octavien setzte sich. »Und wer war es wirklich?«
»Ein Mann namens Michael. Er gehört der Bewegung an.«
»Ja, stelle dir vor, er hat uns das verschollene Pergament gebracht«, warf Emanuel ein.
»Gehörst du denn
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