Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schatten eines Gottes (German Edition)

Schatten eines Gottes (German Edition)

Titel: Schatten eines Gottes (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Ahrens
Vom Netzwerk:
Emanuel in Neubabylon
    Es war ein sommerlicher Tag. Die Mittagssonne tauchte Neubabylon in gleißendes Licht, sie ließ die marmornen Säulen und Statuen funkeln und die roten Ziegeldächer aufleuchten. Majestätisch schweigend stand ringsum der Wald. Uralte, hochgewachsene Stämme schützten den Ort wie treue Wächter. Über den Marktplatz lief eine Schar halbwüchsiger Knaben, alle in blaue Tuniken gekleidet. Es waren Schüler auf dem Weg zur Schule. Sie lebten hier fern vom Elternhaus. Dereinst sollten sie den Geist der Bewegung in die Welt hinaustragen. Bei einem Bäcker erwarben die Jungen frisch gebackene kleine Brote, die mit Pasteten oder Käse gefüllt waren.
    In Neubabylon gab es fast alles, was eine Gesellschaft benötigte: Händler, Handwerker und Dienstboten, ja sogar Bauern, die dem Wald einige Flächen Ackerland abgetrotzt hatten. Alle Bewohner waren sorgsam ausgewählt worden. Sie hatten sich für einen gewissen Zeitraum verpflichtet, die Stadt nicht zu verlassen, es sei denn, mit Erlaubnis, und wurden nach ihren Fähigkeiten und Leistungen entlohnt. Manche blieben für immer.
    Die Bewegung hatte sich bemüht, mit Neubabylon die perfekte Stadt zu schaffen, was nur auf den ersten Blick gelungen schien. Das Leben lief künstlicher ab als woanders, die Nahrungsbeschaffung war schwierig, und die Illusion konnte nur aufrechterhalten werden mit viel Geld. Doch vor allem unterschied sich Neubabylon von anderen Städten durch einen anderen Aspekt: Es gab keine Frauen. Schon deshalb war der Aufenthalt der meisten nur begrenzter Natur. Neubabylon war ein Experiment, mit dem man nicht sein ganzes Leben verbrachte.
    Frauen waren nicht zugelassen, weil der Mithraskult keine Frauen vorsah. Noch waren die Bewegung und der Kult eins. Allen war jedoch klar, dass Frauen auf die Dauer nicht ausgeschlossen werden konnten. Schließlich war Neubabylon das Modell einer Stadt und kein Mönchskloster. Solange man jedoch im Verborgenen agieren musste, hielt man es für ratsamer, die weibliche Frage herauszuhalten.
    Emanuel saß auf der Terrasse und las ein Buch. So nutzte er den schönen Tag mit dem blauen, wolkenlosen Himmel, der ihn an Italien erinnerte.
Man müsste die Sonne Italiens in Eimern und Krügen heranschaffen können,
dachte er manchmal.
Dann wäre Neubabylon perfekt.
Bernardo machte sich in der Schule nützlich. Er lehrte die Knaben die neuen Zehn Gebote und diskutierte sie mit ihnen. Die wenigen Stunden, in denen er fort war, vermisste Emanuel ihn bereits, deshalb lenkte er sich mit Lesen ab. Sein Hunger nach Wissen war nicht geringer geworden, und in der Bibliothek lagerten noch unzählige Bände und Schriftrollen und warteten auf ihn. Er war überwältigt und fasziniert, was es alles über die Welt zu wissen gab und wie klein sein Horizont früher gewesen war. Hinzu kam, dass er hier ständig mit anderen Männern zusammenkam, die dieses Wissen ebenso schätzten, und dass er sich mit ihnen austauschen konnte.
    Um die Mittagszeit kam Bernardo zurück. Emanuel legte das Buch zur Seite. Er lächelte ihn an. »Was machen deine Schützlinge?«, fragte er ihn. Bernardo konnte gut mit Kindern umgehen und war nicht so streng wie die anderen Lehrer.
    »Sie gehorchen mir. Ob sie alles verstehen, das weiß ich nicht.« Er wusch seine Hände in einer Wasserschale, die ein Diener sofort herbeigebracht hatte. Sie hatten zwei Diener. Dieser nannte sich Balthasar. Caspar, der andere, bereitete die Mahlzeiten zu. Bernardo hatte gemeint, das sei nicht nötig, das Kochen könne er doch übernehmen. Jedoch Emanuel hatte Bernardos Armenspeise aus Köln noch in munterer Erinnerung und sein Ansinnen strikt abgelehnt.
    »Was werden wir heute Gutes speisen?«, wandte sich Bernardo an Balthasar.
    »Eine Brotsuppe mit getrockneten Pflaumen, dazu gibt es frisches Brot, Butter und Käse.«
    »Das hört sich gut an.« Er beugte sich zu Emanuel hinüber. »Was liest du? Wieder einmal indische Weisheiten aus den Upanischaden?«
    Emanuel hob amüsiert die Augenbrauen. »Ich beherrsche noch kein Sanskrit. Mir stand heute der Sinn nach etwas Abenteuerlichem und in einer Sprache, die ich verstehe.« Er tippte auf den Ledereinband. »Homer, die Ilias. Eine seltene Abschrift von Papyri aus der Zeit Alexanders.«
    »Geht es da nicht um Schlachtengetümmel? Was für Weisheiten ziehst du daraus?«
    Emanuel grinste. »Wenige, es unterhält mich.«
    »Wie profan. Aber wahrscheinlich ist der Weisheitswinkel in deinem Kopf schon so voll, dass nichts mehr

Weitere Kostenlose Bücher