Schatten eines Gottes (German Edition)
den Vater. Denn Nathaniel hat dich geliebt wie einen Sohn.«
Sinan starrte Monthelon ungläubig an. »Ich – frei von Schuld? Ihr meint, ich werde nicht bestraft? Ich muss die Tat nicht sühnen?«
»Du hast sie bereits gesühnt mit vielen Schmerzen und großer Verzweiflung. Und damit du erkennst, dass wir dich ohne Vorbehalte weiterhin annehmen, ja, dir sogar neue Aufgaben und neues Vertrauen schenken, will ich dir deinen großen Wunsch erfüllen: Ich werde anregen, dass du zum Parsen geweiht wirst.«
Monthelon hatte das mit Bedacht ausgesprochen. Er selbst maß diesen Ritualen keine große Kraft mehr zu, aber er wusste, dass sie Sinan glücklich machen würden, und etwas Freude brauchte er jetzt.
Sinan jedoch war entsetzt. Er wollte Strafe, er wollte sühnen. Tod oder Verbannung, das war ihm gleich, wenn er nur wieder etwas fühlen konnte. Schmerzen und Ängste, alles wollte er ertragen, nur nicht diese schauerliche Leere in sich. Wie konnte die jämmerliche Hülle, die von ihm übrig geblieben war, zum Parsen aufsteigen? Er fiel vor Monthelon auf die Knie. »Nein Meister, dessen bin ich nicht würdig. Schickt mich ins Verlies oder in die Verbannung, lasst mich töten, wenn es so beschlossen wird. Ich fühle mich hinfällig, vernichtet, wie kann ich zum Parsen werden?«
»Steh auf, Sinan. Solche Demütigungen passen nicht zu unserem Verständnis von einer besseren Welt. Wenn du dich noch nicht reif fühlst, so warten wir mit der Weihe. Es eilt nicht. Schöpfe bei uns neue Kraft. Du bist hier bei Freunden und stehst nicht vor Gericht. Ich bin sicher, dein Bruder freut sich über deine Ankunft. Der Franziskaner Bernardo wohnt jetzt bei ihm, er ist ebenfalls Mitglied unserer Bewegung.«
Der Name löste bei Sinan eine Bewegung aus. »Der Mönch mit dem Pergament?«
Monthelon nickte.
»Ich sollte es beschaffen«, murmelte Sinan. »Wie hinfällig ist das nun.«
»Nicht hinfällig. Bernardo hat mir das Pergament übergeben, und es wird eine gute Grundlage für eine künftige Gesetzgebung bieten.«
Sinan atmete auf. »Dann ist es jetzt dort, wo es hingehört.«
»Ja. Übrigens ist Emanuels Freund Octavien auf Besuch. Du kennst ihn doch auch, den verhinderten Tempelritter?«
Sinan brachte sogar ein winziges Lächeln zustande. »Ja. Es ist schön, alle wiederzusehen.«
Nur einer ist nicht dabei,
dachte er.
Der eine, an dem mein Herz hängt und um dessentwegen ich mehr leide als an dem Tod des Meisters.
Aber das hätte er vor Monthelon niemals zugegeben.
***
Agnes saß unter einer Birke am Wegesrand und verspeiste einen Apfel. In der Ferne konnte sie die Türme von Mainz ausmachen. In zwei Stunden würde sie die Stadt erreichen. Nun war sie wieder so frei wie ein Vogel. So wie damals, als sie sich auf dem Weg ins Kloster aus dem Staub gemacht hatte oder als sie mit den Kindern gezogen war. Frei und unglücklich, denn Octavien fehlte ihr sehr. Schon hundertmal hatte sie bereut, einfach davongelaufen zu sein, hundertmal hatte sie zurücklaufen wollen. Aber Sieglindes Gegenwart hielt sie immer wieder davon ab. Mit dieser Frau war kein Auskommen, und Octavien wollte das Gut nicht drangeben. Irgendwann hatte sie sich gesagt, es sei von Anfang an unsinnig gewesen, ihr Herz an einen adeligen Junker zu hängen. Die Schwierigkeiten waren einfach unüberwindlich, für sie und auch für Octavien. Sie tat ihm Unrecht, wenn sie ihn dafür tadelte, dass er Dreieichen und alles, was damit zusammenhing, nicht aufgeben wollte. Schließlich war er damit aufgewachsen, es gehörte einfach zu seinem Leben. Und wenn er jetzt um die Ecke käme, dann würde sie ihm alles verzeihen. Das glaubte sie wirklich. Und nun hatte es sie wieder an den Ort gezogen, wo sie Octavien zum ersten Mal begegnet war. Sie wollte wieder ins Geschäft einsteigen. Vielleicht kam er eines Tages vorbei, vom Zufall angespült, so wie damals.
Stunden später hatte sie die Stadtmauer erreicht, wo immer noch die ärmlichen Holzbuden und wackeligen Tische jener Händler standen, die kein Stadtrecht besaßen und keine Markterlaubnis erhielten. Und da drüben neben dem Holunderbusch, da war ihr Stand. Der Alte hockte immer noch dahinter. Es war, als sei die Zeit stehen geblieben.
Ich werde ihm den Stand wieder abkaufen,
dachte sie.
Ich habe immer noch die Goldmünze. Mich hat Geld noch nie glücklich gemacht. Der Alte jedoch wird sich vor Freude glatt in die Hose …
Sie verbot sich solche Gedanken und trat an den Stand.
Der Alte erkannte sie sofort. Über sein
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