Schatten eines Gottes (German Edition)
Züge ähnelten sehr dem Bild, das sich die Menschen gemeinhin von Gottes Sohn machten. Tatsächlich wurde er von seinen Gefährten heimlich Bruder Jesus genannt, aber das konnte Roffredo nicht wissen.
»Bruder Nathaniel, wolltet Ihr noch etwas sagen, bevor wir beginnen?«, fragte Abt Hermann.
Das Gesicht des Mannes verschloss sich augenblicklich. Er räusperte sich. »Nein, nichts. Ich bitte um Vergebung, Bruder Roffredo. Bitte beginnt nun.«
Roffredo warf noch einen fragenden Blick in die Runde und musterte misstrauisch den anderen Franziskaner, der den Blick unverwandt auf seine gefalteten Hände gesenkt hielt. Ein Jüngling mit olivfarbener Haut und dunklen, unergründlichen Augen.
Hüstelnd um Aufmerksamkeit heischend, begann er zu sprechen. »Ich darf zuerst noch einmal die Situation darlegen, in der wir uns befinden.«
Seine in tausend Predigten geübte Stimme war leise, doch eindringlich. »Vier Kreuzzüge mit wechselnden Erfolgen liegen hinter uns, aber das Heilige Land ist immer noch in der Hand der Heiden. Das ist schlimm genug. Doch die fehlgeschlagenen Eroberungszüge haben auch im eigenen Haus Verwüstungen angerichtet, die ganz Europa geschadet haben und unsere heilige Mutter Kirche in ihrer Existenz bedrohen.«
Seine Worte trafen auf ein zustimmendes Murmeln.
»Ich weise nicht nur auf den ungeheuren Blutzoll hin, den die Edelsten der Edlen in diesen gottwohlgefälligen, aber am Ende sinnlosen Kämpfen entrichtet haben. Ganze Ritterheere, Rückgrat der Verteidiger unseres christlichen Glaubens, haben sich geopfert, wurden aufgerieben, vernichtet. Aber die Kreuzzüge verschlangen auch eine beträchtliche Menge Geldes. Viele Ritter mussten ihre Ländereien verpachten oder verkaufen, um ihre Pferde und Rüstungen zu finanzieren. Die Bauern hatten keinen Herrn mehr. Viele wanderten in die Städte ab, andere gingen in den Osten, wo die Fürsten sie mit Rodungsprojekten in ihre einsamen Wüsteneien lockten. Freie Bauern sollten sie dort sein, niemandem untertan als sich selbst.«
»Was ein guter Christenmensch ihnen nicht verübeln kann«, ließ sich Bruder Bernardo vernehmen. Alle wandten ihm ihre Köpfe zu, ungehalten, sogar empört. Doch als seine sanften Augen alle der Reihe nach musterten, wagte niemand ein Wort gegen ihn, so stark war seine Ausstrahlung. »Ich bitte um Vergebung, dass ich Eure Rede unterbrochen habe, Bruder Roffredo. Mein Lehrer, Bruder Francesco, betrachtet sich als so vieles geringer als einer von euch, die ihr alle großen Orden angehört.«
Roffredo unterband das aufkommende Murren durch ein ärgerliches Klopfen auf die Tischplatte. »Da Ihr hier seid, Bruder Bernardo, steht es Euch auch frei zu sprechen. Ich wäre jedoch dankbar, nicht mehr unterbrochen zu werden. Wir werden anschließend an meine Worte genug Zeit für eine Diskussion haben.«
Bruder Bernardo senkte demütig den Blick. »So sei es, Bruder Roffredo.«
»Euer Verständnis für das Verhalten unserer Bauern, Bruder Bernardo, ist sehr kurzsichtig«, fuhr Roffredo fort, »denn die verlassenen Rittergüter verwaisten, waren dem Mob preisgegeben. Und wo früher eine starke Hand herrschte, musste sie sich bald den Forderungen der Zurückgebliebenen beugen und ihnen Rechte zugestehen, die dazu führten, dass die Bauern immer reicher wurden und nun auch bei uns die Herren spielen wollen. Ihr wisst es selbst, meine Brüder, dass sich die wohlhabende Kaufmannsschicht in den Städten schon längst nichts mehr von Rittern, Grafen oder Fürsten vorschreiben lassen will. Von Männern, die Gott nun einmal nach seinem Willen zum Herrschen bestimmt hat. Sie glauben, ihr Geld mache sie den Edelgeborenen ebenbürtig. Wohin wird das führen? Dass allein irdisch erworbener Reichtum unser Land regiert und nicht mehr der christliche Glaube?«
»Vortrefflich gesprochen! Es ist eine Schande, eine wahre Schande!«, kam ein Zwischenruf von dem jungen Mann, der kein Mönch war. Er wollte offensichtlich noch mehr sagen, aber sein Nebenmann drückte ihn ärgerlich auf den Stuhl zurück. »Schweig, Octavien!« Es war Etienne, ein Tempelritter und der Onkel des vorlauten Jünglings.
Der Gescholtene wurde dunkelrot vor Scham und Zorn, sagte aber nichts mehr.
Roffredo machte eine Pause und sah sich um, ob noch jemand seine Aussage kommentieren wollte. Als das nicht geschah, fuhr er fort: »Als wäre das nicht schon arg genug, breiten sich die Ketzer im eigenen Lande aus und führen einen stillen, aber beharrlichen Feldzug gegen den
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