Schatten eines Gottes (German Edition)
ungezogen, sondern empörend. Ich verstehe dich nicht, Nathaniel, dass du diese verrückte Idee auch noch unterstützt hast.«
»Hatte ich das? Ganz im Gegenteil, ich war entsetzt. Dieser Kinderkreuzzug, sollte er zustande kommen, setzt dem Ganzen wirklich die Krone auf. Die Kirche gebärdet sich immer absonderlicher. Es ist höchste Zeit, dass etwas geschieht.«
»Aber hast du nicht gesagt, eine inbrünstige Kinderschar kann viele müde Krieger erwecken?«
»Tarnung, alter Freund.«
Dann schenkte er Octavien ein freundliches Lächeln. »Dürfen wir erfahren, was für eine Lösung du vorgeschlagen hättest?«
Octavien hob das Haupt noch ein wenig höher und streckte das Kinn vor. »Dorotheus aus Balamand hat es doch erwähnt. Wir brauchen ein göttliches Zeichen, auf das alle mit Ehrfurcht schauen und das ihnen Mut einflößt. Etwas Ähnliches wie die Heilige Lanze. Bereits Kaiser Otto hatte sie seinerzeit auf seinem Zug gegen Rom vor sich hertragen lassen und war siegreich gewesen.«
»Nur dass diese Lanze nicht mehr ganz neu ist und als Hoffnungsbringer ausgedient hat«, schnaubte Etienne. »Wo befindet sich das Ding denn jetzt?«, wandte er sich fragend an Nathaniel.
»Soweit mir bekannt ist, in einem Zisterzienserkloster in Tirol, aber sie wechselt gern den Platz, weil sie immer noch sehr begehrt ist. Leider ist sie uns nicht zugänglich, gleichgültig, welchen Heilsbringereffekt sie haben mag.«
Heinrich schüttelte den Kopf. »Auch ähnliche Reliquien stehen uns nicht zur Verfügung.«
»Aber sie wären hilfreich, Onkel, nicht wahr? Bei den Ausgrabungen auf dem Tempelberg …«
»Junge! Ich habe mich doch bereits in der Versammlung deutlich ausgedrückt. Da wurde nichts ausgegraben, was für uns von Bedeutung wäre.«
»Vielleicht weißt du nicht alles, Onkel.«
»Werde nicht unverschämt, Neffe!«
Nathaniel neigte interessiert den Kopf. »Weißt du denn mehr, Octavien?«
Etienne schnaubte ärgerlich. »Der Junge hat keine Ahnung, will sich nur hervortun. Hat noch gestern am Schürzenzipfel seiner Mutter gehangen und ist sein Lebtag nicht über sein Landgut hinausgekommen.«
Octavien starrte ihn trotzig an. »Ich besitze einen Brief von meinem Großvater, den dieser von seinem Vater aus dem Heiligen Land erhalten hat. Und sein Vater war, wie du wohl weißt, der Bruder von Archibald de Saint-Amand, deinem Großvater, der bei den Ausgrabungen dabei war.«
Etienne blinzelte mit einem Auge. »Und woher hast du diesen Brief?«
»Von meiner Mutter. Sie hebt alles auf, was alt ist und ein Andenken an unsere Familie ist.«
Nathaniel legte die Fingerspitzen seiner Hände aneinander und fragte sanft. »Was steht denn in diesem Brief? Möchtest du uns darüber aufklären?«
»Er deutet an, dass damals etwas gefunden wurde, das von einigem Wert zu sein scheint. Archibald hatte es heimlich an sich genommen und versteckt.«
Bei Etienne flackerte kurzes Interesse auf, und Nathaniel sagte: »Nun spanne uns nicht auf die Folter. Um was für eine Sache hat es sich gehandelt?«
Octavien zuckte die Achseln. »Das steht nicht in dem Brief. Auch nicht, wo etwas versteckt ist, aber es gibt Hinweise.«
»Hirngespinste!«, grummelte Etienne. »Wenn mein Großvater etwas genommen und versteckt hat, dann vielleicht ein paar Goldmünzen. Weshalb hätte er eine kostbare Reliquie verstecken sollen, wie du offensichtlich vermutest. Eine vergrabene Reliquie nützt niemandem. Außerdem war Großvater ein gläubiger Mann und hätte sie Bernhard de Clairvaux oder dem Bischof übergeben.«
»Wir sollten nicht urteilen, bevor wir diesen Brief gesehen haben«, wandte Nathaniel ein. »Dein Großvater kann Gründe gehabt haben, die Reliquie vorerst zu verbergen.«
»Wer sagt denn, dass es eine ist? Glaubst du etwa auch daran?«, fragte Heinrich.
»Jedenfalls hat Archibald etwas an sich genommen«, gab Octavien hitzig zur Antwort, »und er hat es vor den anderen verheimlicht. Immerhin ist der Brief ein Beweis, dass etwas existiert, wovon du nichts weißt, Onkel.«
Etienne schlug sich laut klatschend auf die Schenkel, bevor er sich erhob. »Es steht traurig um die Christenheit Europas, wenn aus der Versammlung so hochrangiger Geistlicher nichts anderes hervorgeht, als ein hirnverbrannter Kinderkreuzzug oder eine nicht vorhandene Reliquie zur Lösung unserer Probleme.«
»Es wäre hilfreich, wenn wir den Brief einsehen könnten«, sagte Nathaniel. »Damit ersparen wir uns weitere Vermutungen. Wenn wir ihn gelesen haben,
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