Schatten eines Gottes (German Edition)
Dieben rechnen musste. Er wirkte gepflegt und trug einen Rock aus gutem Tuch, dazu feste Stiefel. Das dunkelblonde, halblang geschnittene Haar war gewaschen und sorgfältig gekämmt. Mit seinen feinen Zügen und den großen, braunen Augen hätte sein Gesicht die Vorlage für eine Engelsstatue abgegeben. Zudem bemerkte der Fremde, dass die Menge ihm beinahe ehrfürchtig Platz machte. Eine Weile musterte er ihn schweigend, dann sagte er: »Ich will kein Geld, ich will Sühne für die Besudelung meiner Empfindungen, wenn du das überhaupt begreifen kannst.«
»Kann ich nicht«, sagte der Junge. »Vielleicht erklärt Ihr es mir?«
»Warum sollte ich? Geh mir aus dem Weg, Bursche. Ich werde mich in dieser Sache an den Stadtvogt wenden.«
Dann wandte er sich an den Torwächter. »Du haftest für den Bengel. Wenn er dir entkommt, werde ich dafür sorgen, dass man dich deines Amtes enthebt.«
Der blonde Junge ging auf den Fremden zu und packte das Pferd am Zügel. »Ich zeige Euch gern den Weg. Ich bin Nicholas Hardevust. Und wer seid Ihr?«
»Octavien de Saint-Amand.«
Er betonte den Namen so, als sei er ein Kleinod, das er gewöhnlichen Ohren nur selten darbot.
»Mein Vater ist Kaufmann und hat ein Haus in der Rheingasse. Wenn Ihr noch kein Quartier habt, seid Ihr dort willkommen.«
Ein gut erzogener Junge. Immerhin! »Das ist sehr großzügig von dir, äh – Nicholas. Aber ich werde bei einem Verwandten wohnen. Trotzdem danke.«
Octavien gab seinem Pferd einen Schenkeldruck und trabte etwas eilig von dannen.
***
Das breitbrüstige Fachwerkhaus in der Rheingasse wurde gekrönt von einem wuchtigen Giebel. Mit den frisch geweißten Gefachen, die Balken in einem leuchtenden Rot gestrichen, behauptete es sich selbstbewusst unter den anderen prächtigen Patrizierhäusern. Ständig rollten hoch beladene Ochsenkarren zum Rheinhafen hinunter, wirbelten Staub auf und machten einen höllischen Lärm.
Ein angenehmes Geräusch in den Ohren des schmächtigen Mannes, der an einem Sekretär nahe am Fenster saß und die Abrechnungen ihrer Niederlassung in Lüttich überprüfte. Auf seinem eiförmigen Schädel ruhte eine braune Samtkappe. Wieselflink huschte sein durchdringender Blick über die Zahlenreihen, begleitet von einem zufriedenen Kräuseln seiner schmalen Lippen. Den Lärm auf dieser viel befahrenen Straße empfand er als willkommene Hintergrundmusik, denn solange die Räder rollten, gingen die Geschäfte gut.
Während sein Bruder Heinrich auf Reisen war, Handelskontakte knüpfte und Verträge abschloss, verwaltete Jakob die Bücher und schlug sich mit den Zunftbrüdern, den Ratsherren und den Domherren herum. In seinen Augen alles Aaskrähen, die sich an fremder Beute mästen wollten.
Genauso wie mein Herr Neffe, dieses verwöhnte Bürschlein,
dachte er missgelaunt, als er Nicholas’ Schritte auf der Stiege hörte, die zum Giebelzimmer hinaufführte.
Er lauschte, eine Tür knarrte, dann war alles still. Da oben hielt sich Nicholas manchmal stundenlang auf und brütete über Schriften, die ein elfjähriger Junge seiner Meinung nach nicht lesen sollte. Der Parzival und das Nibelungenlied mochten noch angehen, doch was wollte er mit Minneliedern eines Walthers von der Vogelweide oder mit Aristoteles und Platon in lateinischer Übersetzung? Weshalb las er nicht die vortrefflichen Werke des Mönches Isidor von Pelusium oder den Augustinus?
Jakob nahm ein schon mehrfach benutztes Pergament aus einem Kasten, denn Sparsamkeit war die Tugend der Kaufleute. Dann spitzte er mit einem Messer die Gänsefeder, tauchte sie in den Tintenbehälter und senkte sie auf das Pergament, aber in seinem Ärger, den der Junge stets in ihm aufwallen ließ, hatte er vergessen, was er schreiben wollte, und von der schwebenden Spitze des Federkiels löste sich ein Tropfen und fiel auf das Pergament. Beinah hätte Jakob einen gotteslästerlichen Fluch ausgestoßen, aber er besann sich rechtzeitig, nahm einen Schwamm, der in Essig getaucht war, und versuchte, den Fleck wegzuwischen, während ihm der Gedanke an Nicholas wie immer die Stimmung verdarb.
Seiner Meinung nach trugen alle Bücher, außer der Heiligen Schrift und selbstverständlich diejenigen, die ein Handelsherr zu führen hatte, den Geruch der Ketzerei an sich. Und wohin ihre Lektüre bereits geführt hatte, das konnte man ja sehen. Statt sich mit den Gepflogenheiten eines Handelshauses vertraut zu machen, Kaufverträge und Abrechnungen zu studieren, beraubte Nicholas das Haus
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