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Schatten Gottes auf Erden (German Edition)

Schatten Gottes auf Erden (German Edition)

Titel: Schatten Gottes auf Erden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Hering
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lange sollten diese Träumereien nicht dauern.
    Denn eines Tages kam Abbas zu uns. Sein Vater hatte ihn offenbar geschickt, um sich zu erkundigen, wie weit ich mit dem Abschreiben schon sei.
    »Du hast mir etwas Schönes eingebrockt«, sagte er vorwurfsvoll. »Mein Vater will nicht, dass ich hinter dir zurückstehe, und darum muss auch ich jeden Tag viele Stunden lang sitzen und schreiben, und immer, wenn ich einen Fehler mache …«
    »Schlägt er dich?«
    »Nein. Er hat mich, seit du nicht mehr kommst, nie mehr geschlagen. Aber immer, wenn ich einen Fehler mache, schickt er mich um eine Rute, und wenn ich sie ihm gegeben habe, muss ich die Hand vorstrecken, und dann lässt er die Rute durch die Luft pfeifen, dass sie mich fast berührt, und sagt: ›Das hättest du verdient. Doch damit du siehst, was für einen guten Vater du hast, will ich es dir dieses Mal schenken. Aber zum nächsten Mal – na, du weißt schon.‹ Und jedes Mal zittere ich, wenn ich ihm die Rute bringe, und zucke zusammen, wenn sie durch die Luft pfeift. O ja, ich habe einen sehr guten Vater.«
    Er blickte zu Boden, und ich erwiderte nichts. Was hätte ich auch sagen sollen?
    Es war eine kurze Zeit still zwischen uns, aber dann riss sich Abbas aus seinem Brüten und hob wie im Trotz den Kopf.
    »Meine Mutter hat er verstoßen!« Wie rau die Worte ihm aus der Kehle fuhren!
    »Verstoßen? Warum?« fragte ich, weniger aus Neugierde, als um ihm meine Anteilnahme zu zeigen.
    »Ach, wie soll ich das wissen? Ich hörte nur von Weitem, wie er sie schlug, wie sie wimmerte und immerzu schrie: ›Es ist nicht wahr! Ich bin nicht schuld!‹, bis er endlich von ihr ließ und die Scheidungsformel gegen sie aussprach. Denkst du, ich hätte den Mut gehabt, ihn zu fragen, warum? Und sie hat keine andere Antwort als Tränen. Denn wenn ihre Wartezeit um ist, muss sie zu ihrem Vater zurückgehen. Mich aber darf sie nicht mitnehmen.«
    Armer Abbas. Ich bedauerte ihn maßlos.
    »Vermutlich ist Amina schuld«, fuhr er fort, »sie ist in der letzten Zeit so seltsam, so abweisend, geht meinem Vater aus dem Wege, wo sie kann …«
    »Aber warum schlägt er dann nicht sie? Verstößt nicht sie?«
    »Weil sie ihn behext hat. Weil sie machen kann mit ihm, was sie will. Und sie will, dass er allen Tort, den sie ihm antut, meiner Mutter ankreidet und seine Wut an ihr auslässt. Oh, sie ist schlecht! Schlecht! Aber wenn mein Vater tot ist, werde ich es ihr heimzahlen!«
    Er stöhnte, und der Schweiß brach ihm aus. Ich brachte ihm ein Glas Wasser.
    »Du musst dich nicht beeilen mit dem Abschreiben«, sagte ich, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. »Ich habe noch gar nicht damit angefangen. Das kannst du deinem Vater berichten.«
    »Nicht angefangen? Ja, aber weißt du denn nicht, was mit jenen geschieht, die ihr Gelübde nicht halten?«
    »Es ist nicht meine Schuld. Es ist mir noch nicht gelungen, einen Koran aufzutreiben.«
    Am nächsten Tag erhielt ich einen. Ben Nisam hatte dafür gesorgt.
    Als ich den Koran durchblätterte, wurde mir schwarz vor Augen.
    Schön geschrieben war er, kalligrafisch schön: Mit dem Entziffern würde ich keine Schwierigkeiten haben. Und hundertvierzehn Suren – nun ja, wenn sie alle so kurz wären wie die Erste und die Letzte! Aber schon die Zweite zog und zog sich in die Länge und wollte kein Ende nehmen.
    Ich hatte mir eine Rohrfeder zurechtgeschnitten und mir Tinte gebraut. Das weiße Samarkander Papier lag ausgebreitet auf meinen Knien. Aber ich konnte mich nicht dazu entschließen, das erste Wort daraufzusetzen, starrte auf das Buch, das ich aufgeschlagen in der linken Hand hielt.
    Da hörte ich Schritte, wandte mich um, sah Guram an der offenen Kammertüre vorbeigehn und rief ihn an.
    Er trat ein und setzte sich neben mich. »Was hast du, Giorgi?« Ich konnte es ihm nicht erklären.
    Da fuhr er mit der Hand leicht über meine Gestalt, berührte das Buch in meiner Linken, das Schreibrohr in meiner Rechten, das Papier auf meinen Knien. Und lächelte. »Was willst du schreiben?« fragte er.
    »Den Koran! Den ganzen Koran! Hundertvierzehn Suren, und die Zweite allein hat schon zweihundertachtzig Verse. Und ich habe gelesen und nicht verstanden. Und soll schreiben und auswendig lernen, was ich nicht verstehe! Einen Tag um den andern. Niemals wird es ein Ende nehmen.«
    »Lies mir den ersten Satz vor.«
    Ich tat es.
    »Übersetze ihn.«
    »Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen.« »Ist das so schwer zu

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