Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schatten Gottes auf Erden (German Edition)

Schatten Gottes auf Erden (German Edition)

Titel: Schatten Gottes auf Erden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Hering
Vom Netzwerk:
verkehrten ja viele Leute, Pilger und Derwische, Kaufleute und Gelehrte, Sufis und Bettler, und ich fing an hinzuhören, wenn sie miteinander sprachen. Erst verstand ich kaum, was sie sagten, aber nachdem Tirsad begonnen hatte, mir zu übersetzen, erschloss sich ihnen mit meinem Herzen auch mein Ohr.
    Muhammad hat Jesus nicht gehasst, im Gegenteil, er hat ihn verehrt, obwohl er nicht mehr von ihm zu sehen bekommen hat als den Saum seines Gewandes. Aber wer ist schuld daran, dass er das Herzstück seiner Botschaft nicht vernahm? Haben die Christen, denen er begegnete, es ihm vielleicht nicht zeigen können?«
    »Du meinst«, sagte Nino, »wenn Muhammad das Christentum in Georgien kennengelernt hätte und nicht dort unten, wo es schon verfinstert war …«
    »Ach, Kind«, unterbrach er sie, »ich wollte, es wäre so, wie du meinst, dass ich denke: dass die Christen unseres Landes alle dieses Herzstück in sich tragen! Aber wer könnte sagen, es ist so? Nur eines kann man sagen: dass alle die Heimsuchungen, die wir erleiden, den einen Sinn haben: dass es so werde!«
    Mein Vater hatte schon eine ganze Weile danebengestanden und erstaunt zugehört. Nun sagte er:
    »Guram, ich glaube, du hast heute mehr gesprochen als in den letzten zehn Jahren deines Lebens.«
    »Ja, István. Es gibt die Zeit des Schweigens, und es gibt die Zeit des Redens. Das Schweigen ist notwendig, wenn das Samenkorn in die Erde fällt, denn es muss erst ersterben, ehe es Frucht tragen kann.«
    Da fasste mein Vater nach Gurams Hand.
    »Wenn es einen Menschen gibt«, sagte er, »der imstande ist, unserem Giorgi die Last tragen zu helfen, die er sich auf die Schultern geladen hat und die ihm zu schwer geworden ist, so kannst nur du es sein.«
    »Ich will es versuchen.«
    Von dem Tage an geschah etwas, was den meisten Menschen, die es erfahren hätten, absurd erschienen wäre: dass ein Knabe den Koran abschreibt und auswendig lernt und dabei angeleitet wird von einem Christenmönch.
    Das erfuhr aber niemand. Denn mein Vater hatte uns streng verboten, mit irgendjemandem darüber zu sprechen, selbst nicht mit Tirsad. Und so schwer uns das auch fiel, denn Guram liebte den Burschen sehr, und auch mir wurde er immer mehr zu einem Bruder, diese Vorsichtsmaßregel war doch leicht einzusehen und zum Glück auch ohne Schwierigkeiten zu befolgen: Während Tirsad am Basar war (er vermochte ja nun das Geschäft gut auch allein zu betreiben), konnte Guram sich ungestört mit mir befassen, denn was sich im Innern eines Hauses zuträgt, geht keinen Außenstehenden etwas an.
    Unsere Arbeit spielte sich nun folgendermaßen ab: Erst musste ich einen Satz um den andern vorlesen und übersetzen. Dann musste ich ihn abschreiben, dann das Geschriebene laut überlesen und schließlich so lange wiederholen, bis ich es auswendig wusste. Und obwohl Guram schlecht arabisch sprach, merkte er doch sofort, wenn ich einen Fehler machte, und begriff auch den Sinn der Sätze viel schneller als ich. Er hielt sich aber kaum mit Erklärungen auf. Nur äußerst selten unterbrach er mein Lesen, wie etwa, als ich übersetzte: »Und wen Allah leiten will, dem weitet er die Brust für den Islam, und wen er irreführen will, dem macht er die Brust knapp und eng …«, und meine Mutter, die zufällig vorüberging, durch das Wort Islam getroffen wurde und aufschrie: »Das muss er lernen?« Da antwortete er ganz ruhig: »Warum auch nicht, Nino? Islam bedeutet nichts anderes als Hingabe – und ist nicht die Hingabe an Gott das Kernstück jeder Religion? Weitet sie nicht die Brust? Und ist dagegen nicht alles, was die Brust verengt, ein Zeichen des Irrens?«
    Aber dann, wenn das tägliche Pensum beendet war – und es wurde immer in mäßigen Grenzen gehalten –, führte er mich, meiner Mutter zum Trost, ein in die Geschichte der Bibel, auf die ja auch viele Stellen des Korans anspielen. Unsere heiligen Schriften besaß er freilich nicht mehr, er benötigte sie indessen auch nicht. Er kannte sie nicht nur auswendig, sondern noch viel mehr inwendig. Und so war mir zumute, als ginge ich an seiner Hand über die Wege, die Jesus gewandelt war: zu den Ufern des Sees Genezareth, wo Petrus seine Fischzüge tat, bis der Herr ihn anrief, ihm zu folgen und ein Menschenfischer zu werden, nach Bethanien, wo Lazarus auferweckt wurde, und nach Jerusalem, wo das Volk »Hosianna« gerufen hatte und »Kreuzige ihn!«
    Es geschah aber mehr als einmal, wenn von Jerusalem die Rede war, dass meine Mutter sagte: »Und

Weitere Kostenlose Bücher