Schatten Gottes auf Erden (German Edition)
nicht. Und gerade dadurch fiel er mit der Zeit mehr und mehr auf, sodass schließlich viele der Gottesdienstbesucher ihre Geldstücke lieber in seine Schale fallen ließen als in eine seiner zudringlichen Genossen. Er hörte das Klingen der Münzen und dankte, auch dabei stumm bleibend, mit einer kurzen Kopfbewegung.
Am Abend befühlte er das Geld, das in der Schale lag, wusste genau, was er eingenommen hatte, und bald langte es ihm, ein besseres Nachtlager zu bezahlen. Aber sein Geschick änderte sich erst, als Tirsad zu ihm kam. Der Junge war etwa drei Jahre alt und völlig verwahrlost gewesen, als ihn die Leute, in deren Karawane er mitlief, im Han zurückgelassen hatten. Absichtlich vergessen, das wird wohl die beste Bezeichnung ihres Verhaltens sein. Wer seine Eltern waren, wusste man nicht.
Mit sicherem Instinkt schmiegte er sich dem Blinden an, wie auch ein herrenloser Hund wittert, wer ihm den Gebieter ersetzen kann. Bald konnte er Guram zur Moschee führen, kauerte dort neben ihm, und nun musste der Verstummte den Mund wieder öffnen, denn das Kind fragte und fragte und wollte Antwort haben.
Und das Wunder geschah: Die Gaben, die für den einen knapp zum Leben gelangt hatten, wurden für die beiden so reichlich, dass Guram anfangen konnte zu sparen.
Wie der Junge eigentlich hieß, wusste niemand mehr, denn den Namen Tirsad hatte Guram ihm gegeben nach einem seiner georgischen Könige. Und auch seine Sprache lehrte er ihn, und dafür diente der Junge, der im Han mit der Aufnahmefähigkeit der Kinder bald in allen Zungen des Landes reden lernte, seinem Ziehvater als Dolmetscher. Und als Tirsad das nötige Alter erreicht hatte, gab Guram ihn zu einem Goldschmied in die Lehre, und als er ausgelernt hatte, richtete er ihm eine Werkstatt ein. Das Geld dazu hatte er sich zusammengespart.
Und nun begann auch Guram wieder zu arbeiten. Seine Finger ertasteten die Formen, die seine Augen nicht mehr sehen konnten. Er bog die feinen Silberdrähte zu den zierlichsten Figuren, sodass Tirsad nur das Zusammenlöten vornehmen musste, und die schönsten Filigranarbeiten entstanden. Auch das Hämmern und Treiben von Silberblech gelang dem Alten wieder, und die kunstvollsten Ornamente an Kannen, Schalen und Bechern erstanden unter seinen Händen.
Meine Mutter gab keine Ruhe, bis die beiden ihre Werkstatt und Wohnung in unser Haus verlegt hatten. Tirsad wurde behandelt, als ob er Gurams leiblicher Sohn wäre, und er verdiente das auch, denn nie hat es eine größere Anhänglichkeit gegeben als die von ihm zu unserm Guram. Und auch mein Vater war froh über diesen Zuwachs unserer Familie, denn er wusste, wie sehr seine Frau unter ihrer Vereinsamung litt. Er hatte sie ihr nicht aufgezwungen, und doch hatte sie sich zwangsläufig ergeben dadurch, dass er selber so oft außer Hauses zu sein oder den Gastgeber in Männergesellschaft zu spielen hatte und dadurch schließlich, dass er ihr sogar den Sohn entfremden musste.
Hatte er mich ihr entfremdet?
Manchmal, wenn sie mich wie in meinen Kinderjahren auf den Schoß heben und liebkosen wollte, entzog ich mich ihr, und manchmal, wenn sie mit mir eines ihrer Lieder singen wollte, sang ich nicht mehr mit. Kommt es nicht jedem Jungen so vor, als ob er der Mutter entwächst und sie schließlich sozusagen als Kind zurücklässt? Denn was verstehen die Frauen vom Leben?
Mir fiel es nicht weiter auf, dass meine Mutter immer seltener Lust zum Singen verspürte, und nur, als sie nun mit Guram zusammen musizierte, der zu ihrer warmen und weichen Altstimme einen tiefdunklen Bass sang und sie auf dem Kanum begleitete, dieser kleinen Spitzharfe, die man im Abendland Rotta nennt und die er meisterlich spielte, stellte ich betrübt fest, was ich versäumt hatte. Es ließ sich nachholen. Zum Glück ließ es sich nachholen. Ich hatte noch meinen hellen Knabensopran, und als auch Tirsad sich mit seinem Tenor einstellte, war der Chor vollkommen, und Guram konnte uns die Gesänge einüben, von denen seit je die Berge des Kaukasus widerhallen. Es gibt keine Schöneren.
So waren einige Wochen vergangen, ohne dass meines Vorhabens weiter gedacht wurde. Da ich keinen Koran besaß, konnte ich ihn auch nicht abschreiben, und ohnehin war es mir viel angenehmer, mich in der Goldschmiedewerkstatt umzutun, den Blasebalg zu treten, allerlei kleine Hilfsdienste zu leisten und mich schließlich in den Gedanken zu wiegen (die meine Mutter sehr unterstützte), selber ein Meister in dieser Kunst zu werden.
Aber
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