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Schatten Gottes auf Erden (German Edition)

Schatten Gottes auf Erden (German Edition)

Titel: Schatten Gottes auf Erden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Hering
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gewonnen? Einige grammatikalische Regeln aus dem Donatus hatte ich gelernt, dem einzigen Buch, dass wir zu sehen bekamen, dazu einige liturgische Gesänge. Aber die Schrift, die Heilige Schrift, deren Wortlaut kennenzulernen, deren Sinn zu erfassen ich ausgezogen war – wo verbarg sie sich?
    Als ich diese Frage dem Scholasticus stellte, sah er mich entgeistert an. »Wie«, fragte er, »du meinst, weil du nun ein paar Brocken Latein verstehst, könntest du es wagen, dich über die Texte der heiligen Evangelisten herzumachen, und es würde sich dir ihr Sinn erschließen? Wer hat dir diese ketzerischen Gedanken eingeblasen? O du Schwachkopf! Geh in unsern Dom und neige dein Knie in Ehrfurcht vor den Heiligen, deren bunte Bilder an den Fenstern prangen: Da hast du die heilige Geschichte, da hast du die Biblia Pauperum, die Bibel für diejenigen, die da geistlich arm sind. Und betrachte vor allem das Bild vom Verlorenen Sohn, der mit den Schweinen aus einem Trog fressen muss, weil er dem Vater davonlief. Solchen verlorenen Kindern Gottes gleichen wir alle und kommen nicht zum Vater durch geistigen Hochmut, sondern nur durch Buße, Reue und Gehorsam.«
    Er ließ mich stehen. Ich konnte mit seinen hohlen Worten wenig anfangen. Trotzdem befolgte ich seinen Rat und betrat das Gotteshaus, das nach dem Hochamt nur von wenigen Betern besucht war.
    Die Sonne meinte es tröstlicher mit mir als unser Scholasticus, denn sie ließ ihre vollen Strahlen durch die südlichen Fenster hereinfallen, sodass die farbigen Glasbilder in ihrer ganzen Schönheit zur Geltung kamen. War es möglich, dass ich bis zur Stunde an ihnen vorbeigegangen war, ohne etwas anderes wahrgenommen zu haben als den Gesamteindruck ihres bunten Mosaiks, das den heiligen Raum in ein magisches Licht hüllte? Nun erst gewahrte ich, dass es nicht Ornamente waren, die sich in unendlicher Vielfalt ineinanderschlangen und das Gotteshaus schmückten wie in den Moscheen von Samarkand, sondern Darstellungen des Lebens in seiner ganzen Vielfalt.
    Nicht alle konnte ich deuten. Die Bilder in den höchsten Spitzen der Fenster erschienen dem Auge zu klein, zu verschwommen, als dass es alle Linien hätte deutlich auseinanderhalten können. Und tiefer unten, die Gestalten der Heiligen und Märtyrer, fremd waren sie mir. Umsonst suchte ich die heilige Nino mit dem Rebenkreuz – wie sollte sie sich auch in diese abendländische Kirche verirrt haben? Eva, ja – die war leicht zu erkennen an dem Apfel, den sie Adam zureichte, und an der Schlange, die hinter ihrem Rücken den Kopf aus dem Gezweige des Baumes steckte. Und auch die Madonna mit dem Kind, das die Weltkugel in den Händen hielt. Aber dazwischen, diese Fülle von Szenen, die ich nicht zu erklären wusste: Menschen und Tiere, Kriegsknechte und Pilger, Könige und Bettler – ganz schwindlig wurde mir vom Ansehn, bunte Lichtflecke tanzten vor meinen Augen. Endlich blieb mein Blick an einem Bild hängen, zu dem mir die Geschichte einfiel. Guram hatte sie mir erzählt.
    Nein, es war nicht das Bild vom Verlorenen Sohn. Sondern das vom Barmherzigen Samariter. Man sah ihn die Wunden des Mannes verbinden, der unter die Räuber gefallen war. Wie – war nicht auch ich dem Verlangen nachgezogen, Wunden zu verbinden, Kranke zu heilen, Leiden zu lindern? Und wohin war ich geraten?
    Als ich mir diese Frage stellte, zwang es mich wohl in die Knie. Ich legte meine Stirn auf die Kante des Betpultes, doch keiner der vielen Engel, die von den Bildern auf mich herunterblickten, hatte eine Antwort für mich. Ich merkte auch nicht, dass jemand neben mich trat. Erst als sich mir eine Hand auf die Schulter legte, fuhr ich zusammen, blickte auf und erkannte Hans Trautenberger. Er war ein Sachse aus Hermannstadt und Scholar gleich mir. Zwar gehörte er nicht der Anfängergruppe an, in die man mich eingestuft hatte, doch saßen wir bei Tisch nicht weit voneinander, und ich hatte schon manches Wort mit ihm gewechselt.
    »Ich habe gehört«, sagte er, »was du den Scholasticus gefragt hast und auch, was er dir geantwortet hat. Du musst dir das nicht so zu Herzen nehmen. Diese Menschen verstehen es ja immer, die Worte zu drehen und zu wenden und auszulegen, wie es ihnen gerade in den Kram passt.«
    Ich horchte auf. Das war eine Sprache, wie ich sie hier noch nie vernommen hatte. Langsam erhob ich mich, stand neben ihm, sah in seine grauen Augen, fühlte ihren wägenden Blick auf mir ruhen. Fast gleich groß waren wir und, wie sich nachher

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