Schatten Gottes auf Erden (German Edition)
herausstellte, auch fast gleich alt.
»Kannst denn du mir meine Frage beantworten?« fragte ich und erschrak selbst vor der Leidenschaftlichkeit meiner Stimme, die ich sofort dämpfte. »Die Geschichte vom Verlorenen Sohn kenne ich ja. Und auch die vom Barmherzigen Samariter. Aber wie komme ich hinter den Zusammenhang all dieser Geschichten und des ganzen Geschehens? Wer gibt mir die Schrift in die Hand, damit ich nachlesen kann, auswendig lernen kann, ergreifen kann, begreifen kann, ergriffen werden kann …?«
Ich brach meine Rede so jäh ab, wie ich sie begonnen hatte, da mich ein Geräusch erschreckte. Es war aber nichts anderes als das Hüsteln eines alten Weibleins, das in einem Seitenaltar vor der Muttergottesstatue kniete.
Hans antwortete nicht gleich. Als die Alte still geworden war, lastete das Schweigen auf uns wie in einer Gruft.
»Was bist du für einer?« fragte er endlich leise.
Lag etwas Lauerndes in dieser Frage? Wollte mich jemand aushorchen, um mich in der Hand zu haben, mir schaden zu können, wann immer ihm das vorteilhaft zu sein schien? Ach, schon in frühester Kindheit hatte mich die Warnung vor dieser Gefahr um alle meine Unbefangenheit gebracht, hatte mich seither begleitet wie ein graues Gespenst, das mir die Gefährten von der Seite vertrieb und mir die Freunde zu Feinden machte. Und hier, wo ich ein Christ war unter Christen, sollte es immer noch Gewalt über mich haben?
Ich sah dem vor mir Stehenden fest in die Augen. »Komm«, sagte ich und fasste seine Hand. »Ich weiß eine Nische in der Kirchhofsmauer, hinter dem Fliedergebüsch …« Und nie vorher und auch nie seither habe ich mit einem Menschen so rückhaltlos gesprochen wie mit ihm, dem mir bis dahin völlig Fremden.
Er war der Sohn eines wohlhabenden Hermannstädter Kaufmanns. Sein Vater führte die Reichtümer Siebenbürgens, Getreide, Salz, Wachs und Honig, Wein und Felle — aber auch die Erzeugnisse des sächsischen Gewerbefleißes, Tücher und fertige Kleider, bunt bestickte Ledergürtel, Bogen und Armbrüste, zinnerne und silberne Geräte, nach Ofen und Wien, ja bis nach Dalmatien und Venedig. Er hatte Sitz und Stimme in der Nationsuniversität der Siebenbürger Sachsen, und sein Rat galt etwas in ihrer seltsamen bürgerlich-bäuerlichen Welt, die sich neben der adligen dieses Landes schon drei Jahrhunderte lang zu behaupten verstanden hatte. Man hatte ihnen das zuzeiten schwer genug gemächt, und das nicht nur von adliger, sondern nicht weniger auch von kirchlicher Seite, da der Bischof von Weißenburg sich immer wieder Rechte anzumaßen versuchte, die gegen die ihnen von den ungarischen Königen verbrieften Freiheiten verstießen.
Das war der Grund, warum Martin Trautenberger seinen jüngsten Sohn, den Hans, in die Domschule von Weißenburg geschickte hatte. Lateinisch lernen hätte er in Hermannstadt freilich ebenfalls können – aber das Leben und Treiben in der Bischofsstadt zu beobachten und auf sich wirken zu lassen, die Denkweise und Gesinnung ihrer Menschen kennenzulernen und Beziehungen anzuknüpfen zu Altersgenossen außerhalb des engsten eigenen Kreises (und dazu noch, als Nebengewinn sozusagen, sich ein unverfälschtes Ungarisch anzueignen) war wichtiger, und deshalb hatte der weit gereiste und weitblickende Vater diesen Entschluss gefasst, den nicht jeder seiner Freunde guthieß.
»Ich werde nicht mehr lange in Weißenburg bleiben«, sagte Hans, »mein Vater hat mir geschrieben, dass er vorhat, im Frühjahr mit seinen Waren an die dalmatinische Küste und nach Venedig zu reisen. Er will mich mitnehmen, dass ich in Italien weiterstudieren kann. Hier lernt man sowieso nicht viel.«
Erschrocken sah ich ihn an. So schnell also sollte ich verlieren, was ich kaum gewonnen hatte? Als er fühlte, was in mir vorging, fügte er hinzu: »Wenn du willst, bitte ich den Vater, dass du uns begleiten darfst.«
»Aber wie kann ich das? An welcher Hohen Schule wird man mich aufnehmen mit den geringen Kenntnissen, die ich bis jetzt erwerben konnte?«
»An jeder! Mein Vater sagt, wer immer lesen und schreiben kann, wird dort aufgenommen. Die Anfänger lernen im Trivium der Sieben Freien Künste Grammatik, Logik und Rhetorik, die Fortgeschrittenen im Quadrivium Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musiktheorie. Ich zweifle aber, dass ich gleich ins Quadrivium komme. Wahrscheinlich werden wir uns zusammen mit der Grammatik herumschlagen, und du wirst mich bald eingeholt haben. Na, wir werden ja sehen.«
»Aber wozu
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