Schatten ueber Broughton House
als Erinnerung an ihre Mutter, die gestorben war, als Megan sieben Jahre alt gewesen war.
Sie holte ein kleines Stück Glas aus der Schatulle hervor. Obwohl von zylindrischer Form, so war es doch nicht gänzlich gerundet, sondern hatte einige flache, glatte Seiten.
Megan hatte nie gewusst, was es wohl sein mochte. Eines Tages, vor beinah zehn Jahren schon, hatte sie es gefunden - es war nicht lange nach Dennis’ Tod gewesen, als sie von tiefer Trauer erfüllt gewesen war. Beim Putzen ihres Zimmers hatte sie das Glasstück in einem staubigen Winkel unter ihrem Bett entdeckt. Verwundert hatte sie es hervorgeholt und gegen das Licht gehalten. Es war reines, klares Glas - wegen der flach ge schliffenen Seiten schien es wie ein Prisma und in der Mitte schimmerten silbrige Fäden. Sie konnte sich beim besten Willen nicht erklären, wie es unter ihr Bett gelangt war, und auch Deirdre, die bereits damals das Zimmer mit ihr geteilt hatte, wusste nichts davon.
Megan hatte es in die Tasche ihres Kleides gesteckt und fortan bei sich getragen. Es war ihr zu einer Art Glücksbringer geworden. Wenn sie von beunruhigenden Gedanken gequält wurde oder sich Sorgen machte, fand sie es tröstlich, über die flachen Seiten des Glases zu reiben, wie sie es zuvor bei jenem Heiligenmedaillon gemacht hatte, das sie Jahre ihres Lebens getragen hatte.
Besagtes Medaillon, ein silbernes Oval mit dem Bildnis der Jungfrau Maria, hatte sie von ihrer Mutter zur Erstkommunion geschenkt bekommen. Ihre Mutter war bald darauf gestorben, und Megan hatte das Medaillon seit jenem Tag immerzu getragen.
Aber dann - wenige Wochen bevor sie das Stück Glas unter ihrem Bett fand - hatte sie ihr Medaillon verloren. Sie wusste nicht, wie es geschehen war, und obwohl sie das ganze Haus durchsucht hatte, ja, selbst auf den Gehwegen nahe des Hauses und im Laden ihres Vaters hatte sie nachgesehen, fand sie es nicht wieder. Die Kette würde wohl gerissen und ihr mitsamt dem Medaillon unbemerkt vom Hals geglitten sein. Das geheimnisvolle Glasstück schien Megan in gewisser Weise eine Wiedergutmachung für ihren Verlust zu sein.
Wenngleich Megan ihren Glücksbringer nicht länger mit sich herumtrug, so hatte sie ihn doch nicht zurücklassen wollen. Denn, so dachte sie sich, wenn sie Theo Moreland gegenübertrat, würde sie alles nur erdenkliche Glück gebrauchen können.
Gedankenverloren strich sie über das Glas, schüttelte kurz den Kopf, als wolle sie unliebsame Erinnerungen verscheuchen, und legte es zurück in die Spieldose. Rasch ging sie aus dem Zimmer und lief die Treppe hinunter, um ihre Schwester zu suchen.
Deirdre saß am Küchentisch, schälte Kartoffeln für das Abendessen und lächelte, als Megan hereinkam. Megan nahm sich ein Messer und eine Kartoffel, bevor sie sich setzte, um ihrer Schwester zu helfen.
„Hast du dir Broughton House heute Nachmittag angesehen?“, wollte Deirdre wissen.
„Ja, das habe ich, und es ist genauso prächtig, wie du es dir vorstellen würdest.“
„Hast du dir jemals über ihn Gedanken gemacht?“, fragte Deirdre weiter. „Über Theo Moreland?“
„Was für Gedanken?“
„Oh, du weißt schon ... wie er wohl sein mag. Wie er aus-sieht.“ . „Das kann ich mir sehr genau vorstellen“, erwiderte Megan. „Wahrscheinlich sieht er aus wie alle Engländer - blondes Haar, leblos bleiche Haut und dazu ein fliehendes Kinn. Seine Miene wird diesen ganz gewissen hochmütigen Ausdruck haben, als ob er stets voll Arroganz und Verachtung auf die Welt hinabsähe, wie es dem Mann zusteht, der einmal der Duke of Broughton sein wird. Seine Augen sind sicher von einem kalten Blau.“ „Glaubst du, dass er sich Dennis wegen schuldig fühlt?“ Megan zuckte mit den Schultern. „Wer weiß? Ich werde auf jeden Fall dafür sorgen, dass er bis ans Ende seiner Tage für seine Tat bezahlen wird.“
„Was willst du tun? Ich meine, wie willst du herausfinden, was damals geschah? Und wie willst du es beweisen?“, fragte Deirdre.
„Zunächst einmal werde ich mich mit den beiden Engländern unterhalten, die mit ihm auf der Expedition waren. Mr. Barchester und dieser andere ... Julian Coffey.“
Ihr Bruder war vor zehn Jahren in See gestochen, um an einer Expedition an den Amazonas teilzunehmen, die von einem amerikanischen Entdecker namens Griswold Eberhart geführt wurde. Nach seiner Abreise hatten sie nur einen einzigen Brief von ihm erhalten. Darin schrieb er, dass alle anderen Mitreisenden kurz nach ihrer Ankunft am
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