Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)
Keeneland, und danke für die Schulter zum Anlehnen. Ich konnte sie brauchen, ja eigentlich brauchte ich dich.«
15
Als Naomi von Kelseys Entscheidung, das Team nach Kentucky zu begleiten, erfuhr, stellte sie keine Fragen. Sie hatte sich zwar so sehr gewünscht, ihre Tochter möge mitkommen, doch wollte sie das nicht als selbstverständlich nehmen. Für Naomi war nichts mehr im Leben selbstverständlich.
Die einzige Unstimmigkeit kam auf, als Kelsey darauf bestand, ihre Auslagen selbst zu bezahlen. Das nagte an Naomi, während sie packte und ihre Vorbereitungen traf, während des Fluges und beim Einchecken im Hotel. Und als sie Kelsey zu sich ins Zimmer bat, machte sie ihrem angestauten Ärger Luft.
»Das ist doch absurd!« Erregt lief sie im Zimmer auf und ab und ignorierte die leichte Mahlzeit und den Wein, den sie bestellt hatte, um die Auseinandersetzung erfreulicher zu gestalten. »Du bist als eine Mitarbeiterin von Three Willows hier und hilfst Boggs mit Pride. Betrachte es als Spesen.«
»Ich bin hier«, berichtigte Kelsey, »weil ich mir um nichts in der Welt die Bluegrass Stakes oder das Derby entgehen lassen will. Und was Pride angeht, da bin ich vollkommen überflüssig. Moses und sein Team brauchen mich nicht.«
»Aber ich«, gab Naomi sofort zurück. »Kannst du dir eigentlich vorstellen, was es für mich bedeutet, dich hier zu haben? Aus freien Stücken? Nach all der Zeit, nach all dem Kummer zu wissen, daß du neben mir stehst, und zwar nicht nur während des Zieleinlaufs, sondern die ganze Zeit über. Lieber habe ich dich von heute bis zum ersten Samstag im Mai an meiner Seite, als ein Dutzend Derbys zu gewinnen. Und du läßt mich noch nicht einmal deine Hotelrechnung bezahlen!«
Ziemlich verblüfft, starrte Kelsey ihre Mutter an. Noch
nie hatte sie Naomi so engagiert, so emotionsgeladen erlebt. Hier endlich sah sie die Frau, die ihr von dem Hochzeitsfoto entgegengelacht hatte, die rücksichtslos mit anderen Männern geflirtet hatte – und die einen von ihnen getötet hatte.
»Es erscheint mir einfach nicht richtig«, begann sie, verstummte aber augenblicklich, als Naomi herumfuhr.
»Und warum bitte schön nicht? Weil ich nicht dem üblichen Bild einer Mutter entspreche? Weil ich in einer Zelle saß, als ich eigentlich bei dir sein und dir beibringen sollte, wie man sich die Schnürsenkel bindet?«
»Das habe ich nicht . . .«
»Ich erwarte ja gar nicht, daß du mir das verzeihst«, brauste Naomi auf. »Ich erwarte auch nicht, daß du alles vergißt. Du bist weder verpflichtet, mich zu lieben, noch, mich als deine Mutter zu betrachten. Aber ich war der Meinung, daß du Three Willows allmählich als dein Heim betrachtest.«
»Das tue ich auch«, sagte Kelsey vorsichtig, auf einer neue Explosion gefaßt. »Was aber noch lange nicht heißt, daß ich die Situation oder dich ausnutzen will.«
Die erwartete Explosion blieb aus. Naomi setzte sich, bemüht, ihr Temperament zu zügeln. »Wenn du dir deinen Aufenthalt nicht von mir finanzieren lassen willst, dann wenigstens von Three Willows. Es ist gut möglich, daß dich dein Aufenthalt auf der Farm zumindest einen Teil deines Erbes kostet. Was ich sehr bedauere.«
»Also läuft das Ganze auf eine Entschädigung hinaus? Nun gut.« Kelsey hob die Hände, als in Naomis Augen erneut ein rebellischer Funke aufglomm. »So ein Quatsch. Ich weiß wirklich nicht, warum du dich so aufregst. Zahl die Rechnung, wenn dir das soviel bedeutet.« Energisch warf sie ihr Haar zurück. »Und da habe ich mich immer gefragt, von wem ich mein Temperament geerbt habe. Dad ist die Ruhe selbst, und du hast immer so gelassen und beherrscht gewirkt. Jetzt weiß ich, wo ich meinen Hitzkopf herhabe, dafür ziehe ich gern bei einem Streit den kürzeren.«
»Freut mich, daß ich wenigstens ein Geheimnis lüften konnte.« Unwillig die Achseln zuckend, zupfte Naomi eine Erdbeere von der Obstplatte, die sie bestellt hatte. »Wie dem auch sei, vom Streiten krieg’ ich immer Hunger. Möchtest du auch was essen?«
»Ja.« Kelsey nahm eine Apfelscheibe. »Eins will ich noch klarstellen«, begann sie in einem Tonfall, der Naomi beim Einschenken des Weins innehalten ließ. »Ich akzeptiere dich durchaus als meine Mutter. Sonst wäre ich nämlich längst nicht mehr hier.«
Naomi beugte sich vor und küßte Kelsey leicht auf die Wange, dann füllte sie die Gläser.
»Auf die Frauen von Three Willows.« Leise klirrend stießen die beiden miteinander an. »Ich habe lange
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