Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)
sammeln
wollte. In Wirklichkeit ging es nur darum, die Leere in ihrem Leben auszufüllen, eine Leere, die sie nicht hatte wahrhaben wollen. Und die sie mit Sicherheit auch nicht verstanden hätte.
Sie hatte lange darüber nachgedacht, ob sie im Grunde genommen nicht immer das gleiche tat, ob sie Naomi, die Farm und sogar Gabe nur dazu benutzte, um die Brüche in ihrem Leben zu kitten. Würde sie die alltägliche Routine über kurz oder lang nicht ernüchtern und langweilen, wie ihre Familie es ihr prophezeite, und sie wieder weitertreiben?
Oder waren die Gefühle, die in ihr aufkeimten, diesmal von Bestand? Die wachsende Zuneigung zu ihrer Mutter, die fast unmerklich vonstatten gegangene Entwicklung von Zorn und Argwohn zu Respekt und Liebe. Warum sollte sie nicht einfach akzeptieren, daß sie auf der Farm ihren Platz gefunden hatte – und dabei war, ihn sich zu verdienen?
Und Gabe? Warum sollte sie nicht ganz entspannt genießen, was zwischen ihnen geschah? Gestern nacht, als sie ins Bett fielen, hatten sie keine Zweifel geplagt, und heute morgen, als sie sich an ihn gekuschelt und sie sich langsam und zärtlich geliebt hatten, auch nicht.
Vielleicht lag es an ihrer allzu starren Auffassung davon, was richtig, was falsch ist, an ihren tiefverwurzelten Wertvorstellungen. Wie konnte sie es zulassen, daß sich Naomi auf sie verließ, wenn sie sich gar nicht sicher war, wie lange sie bleiben würde? Wie konnte sie eine leidenschaftliche Beziehung eingehen, wenn dabei noch kein Wort von Liebe gefallen war?
Vielleicht war sie wirklich zu streng mit sich und anderen. Wenn sie den Augenblick nicht genießen konnte, alles gleich hinterfragen mußte, was ließen sich daraus für Rückschlüsse auf ihren Charakter ziehen? Konnte es sein, daß sie beleidigt war – wenn auch nur ein bißchen – weil ihr Exmann wieder heiratete, weil er vielleicht schon zum zweiten Mal das Gelübde wiederholt hatte, während sie Blumen in die Mähne eines Wallachs flocht?
Langsam war es an der Zeit, mit alledem endgültig abzuschließen, mahnte sie sich, und nach vorne zu schauen. Sie hatte jetzt ein Ziel vor Augen – und Fragen, die nach einer Antwort verlangten. Sie würde diese Aufgabe logisch angehen und bei einer zwanzig Jahre alten Spur beginnen. Sie schwor sich, morgen früh Charles Rooney anzurufen.
Als sie zum Sattelplatz gingen, hatte der Regen wieder aufgehört, wäßrige Sonnenstrahlen drangen durch die aufgerissene Wolkendecke und schienen auf die tropfenden Dächer.
Kelsey warf Boggs einen verstohlenen Blick zu. Er wirkte älter und wesentlich gebrechlicher als noch vor zwei Wochen. Sie wußte, daß er High Water aus zwei Gründen als Pfleger zugeteilt worden war, einerseits wegen seiner Fähigkeiten, andererseits aber auch, um ihn auf andere Gedanken zu bringen.
»Der Regen ist ein Pluspunkt«, sagte sie zu ihm und hoffte, ihn damit aus seinen Grübeleien zu reißen. »High Water hat es gern, wenn die Bahn naß ist.« Genau wie Double, dachte sie.
»Ist’n guter Hengst.« Abwesend tätschelte Boggs High Waters Hals. »Freundlich und zuverlässig. Kann sein, daß er uns allen’ne Überraschung bereitet.«
»Zuletzt wurde er fünf zu eins gehandelt.«
Boggs zuckte die Achseln. Die Quoten hatten ihn noch nie interessiert. »Is’ dieses Jahr noch nich’ viel gelaufen, also weiß keiner, wozu er in der Lage ist. Hat jedenfalls mehr Geld eingebracht, als er gekostet hat. Er wird schon laufen, wenn er soll.«
Aber er war nicht wie Pride. Boggs brauchte es nicht laut auszusprechen, Kelsey verstand ihn auch so.
»Dann werde ich ihn darum bitten.« Sie nahm den Hengst am Zügel und zog seinen Kopf zu sich, bis sie ihm in die Augen sehen konnte. Sie schienen ihr weise, abgeklärt und, wie Boggs schon gesagt hatte, freundlich. »Du wirst laufen, nicht wahr, mein Junge? Wenn du rennst, so schnell du kannst, dann sind wir schon zufrieden.«
»Du bittest ihn nicht darum zu gewinnen?« Naomi legte Kelsey eine Hand auf die Schulter; eine kleine Geste nur, die sie trotzdem beide immer noch anrührte.
»Manchmal ist der Versuch wichtiger als der Sieg.«
Ihr Blick fiel auf Reno, der, mit blassem, verhärmtem Gesicht, etwas abseits stand, den Arm noch in der Schlinge. »Wir treffen uns gleich an der Box.«
Kelsey ging zu ihm hinüber und ergriff seine unverletzte Hand. »Ich hatte gehofft, dich hier zu sehen.«
»Ich mußte einfach kommen.« Das letzte, was er hatte tun wollen – als Zuschauer an der Seitenlinie stehen.
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