Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)
sehen. Alles schien sich so gut anzulassen. Und dann . . .« Erschöpft sank Moses in den Stuhl zurück und rieb sich das Gesicht. »Ach, verdammt. Sie ist mir im falschen Moment über den Weg gelaufen.«
»Was ist los, Moses?« Wieder faßte sie nach seiner Hand. Diesmal ergriff er sie.
»Die Götter lachen, Naomi. Besonders, wenn die Sterblichen vergessen, daß sie die Fäden ziehen. Und daß sie ihnen das wegnehmen können, was sie sich am meisten wünschen. Mir wurde schon einmal das Herz gebrochen.« Wieder sah er zu ihr hoch und lächelte schwach. »Daran
warst du schuld. Aber das ist schon eine Weile her. Ich hatte vergessen, wie weh das tut.«
»Pride«, murmelte sie. »Und ich dachte, nur ich allein trauere um ihn.«
Unglücklich schaute er auf ihre Hände, die sich immer noch gefaßt hielten. »Ich habe etwas übersehen, Naomi. Ich habe mich so darauf konzentriert, das Rennen zu gewinnen, daß ich unvorsichtig geworden bin, und sei es auch nur für eine Minute. Und das habe ich teuer bezahlt.«
»Trauern kannst du, Moses. Aber du darfst dir nicht die Schuld geben.«
»Es war mein Pferd, Naomi.« Seine Augen hefteten sich auf ihr Gesicht. »Auch wenn dein Name in den Papieren steht, er gehörte mir. Und ich habe ihn verloren. Ich war nicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Ich habe nicht gespürt, was ich hätte spüren müssen. Auch heute noch rufe ich mir jede Minute dieses Tages ins Gedächtnis zurück. Ich überlege und überlege, aber ich kann nichts finden. Dabei muß es direkt vor meiner Nase passiert sein.« Er schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. »Direkt unter meiner verdammten Nase!«
Aus Erfahrung wußte sie, wie sie mit ihm umgehen mußte, wenn er in einer solchen Stimmung war. »Okay, Whitetree, es war alles dein Fehler. Du warst für Pride verantwortlich. Ich bezahle dich dafür, meine Pferde auszubilden, sie zu kennen, sie zu verstehen und sie von der Geburt bis zum Tod zu betreuen. Ferner bezahle ich dich dafür, meine Leute zu beaufsichtigen, sie einzustellen oder rauszuschmeißen und zu entscheiden, welches Team mit welchem Pferd bei welchem Rennen arbeitet. Aber wie es aussieht, habe ich dich auch dafür bezahlt, die Zukunft vorherzusehen.« Naomi wiegte den Kopf hin und her. »Und da dem so ist, weiß ich jetzt nicht, ob ich dich feuern oder dir eine Lohnerhöhung geben soll.«
»Es ist mein Ernst.«
»Meiner auch.« Sie stand auf und ging um den Tisch herum, um seine verspannten Schultern zu lockern. »Ich will wissen, was geschehen ist, Moses. Ich will wissen,
wer es getan hat, und ich will, daß derjenige dafür büßt. Was ich überhaupt nicht möchte, ist, daß jemand, den ich liebe und brauche, sich so quält. Bis zum ersten Samstag im Mai sind es weniger als elf Monate.«
»Stimmt.« Moses fiel ein Stein vom Herzen, und er atmete erleichtert auf. »Schätze, ich sollte jetzt gehen und mich bei deinem Mädchen entschuldigen.«
»Laß nur. Sie muß lernen, Kritik zu vertragen.«
Wieder lächelte er. »Sie hätte mir am liebsten die Augen ausgekratzt. Himmel, sieht sie dir ähnlich! Es gibt nicht viele Dinge, von denen ich bedauere, sie nicht getan zu haben, Naomi. Eigentlich kann ich die wichtigsten an einer Hand abzählen. Ich habe nie eine Pilgerfahrt nach Jerusalem unternommen, bin nie in die Fußstapfen meiner Vorfahren getreten, und ich habe kein Kind mit dir.«
Sie hielt mit der Massage inne, und er griff hinter sich und drückte ihre Hände. »Es tut mir leid.«
»Nein.« Naomi senkte den Kopf, so daß ihre Wange auf seinem Haar ruhte. »Das muß es nicht. Warum bekommt man so selten im Leben eine zweite Chance, Moses?«
Eine zweite Chance fand man so selten wie eine Stecknadel im Heuhaufen, dachte auch Rich, und wer eine bekam und sie am Schopf packte, der war ein glücklicher Mann. Wie Rich Slater.
Er hatte zwei Riesen riskiert, um eine Dreierwette zu plazieren, ehe er wieder an die Bar ging. Dreierwetten waren immer heikel, doch er hatte eine Glückssträhne.
Man sollte sich an die Pferde halten, dachte er. Zur Hölle mit den Karten, die brachten einem Mann nur Scherereien. Nein, von nun an würde es für ihn nur noch die Pferde geben.
Er bestellte einen weiteren Bourbon, sein neuestes Lieblingsgetränk, und zog eine Fünf-Dollar-Zigarre aus der Tasche.
Ein Feuerzeug flackerte unter seiner Nase auf, und er zog seine Augenbrauen hoch. Rich paffte genüßlich an der Zigarre, dann drehte er sich um, um seinen Sohn gewinnend
anzulächeln: »Sieh
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