Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)
den vorderen Ställen. Es war ein kleiner, vollgestopfter, unangenehm nach Pferdeurin stinkender Raum, den er aber dem luftigen Zimmer in dem weißgetünchten Gebäude bei der westlichen Weide, das sein Vorgänger benutzt hatte, vorzog.
Seine ständige Redensart lautete, der kräftige Geruch nach Pferden sei ihm angenehmer als jedes französische Parfüm, und er wolle an Ort und Stelle des Geschehens sein.
Die Ställe funkelten fast so wie die Halle eines Luxushotels, nur ging es hier lebhafter zu. Die betonierte Gasse zwischen den Stallreihen war makellos sauber geschrubbt,
und an jeder Box waren Emailleschilder angeschraubt, die in goldenen Lettern den Namen des Pferdes trugen, das dort stand. Naomis Vater hatte dies eingeführt, und als Naomi die Leitung der Farm von ihrem Vater übernahm, hatte sie es beibehalten.
Es roch nach Pferden, Heu, Getreide und Leder – eine Mischung, die Naomi während der Jahre im Gefängnis schmerzlich vermißt hatte und deshalb heute um so mehr zu schätzen wußte.
Für sie war es der Geruch von Freiheit.
Als Moses vorbeiging, steckten einige Pferde die Köpfe aus ihren Ställen. Auch er verbreitete einen Geruch, den sie kannten. Und egal wie schnell er die betonierte Gasse zwischen den Ställen entlangging, er hatte immer Zeit für eine kurze Liebkosung, ein gemurmeltes Wort für die Tiere.
Die Stallburschen arbeiteten weiter wie gewohnt, nur daß Striegel und Heugabeln vielleicht etwas eifriger geschwungen wurden, wenn Moses in Sicht war.
»Ich wollte sie gerade auf die Koppel führen, als ich merkte, daß sie vorsichtig auftritt.« Der Pfleger blieb bei Serenitys Stallbox stehen. »Dann hab’ ich die Schwellung gesehen und dachte, du solltest selbst mal einen Blick darauf werfen.«
Moses gab ein unverständliches Grunzen von sich und strich mit der Hand über das schimmernde kastanienfarbene Fell. Er sah der jungen Stute in die Augen, schnupperte an ihrem Maul und sprach beruhigend auf sie ein, während er ihr Bein abtastete.
Genau über der Fessel war das Bein geschwollen und fühlte sich heiß an. Als Moses vorsichtig auf die Stelle drückte, zuckte die Stute zurück und ließ ein warnendes Schnauben hören. »Sieht aus, als hätte sie sich böse gestoßen.«
»Reno hat sie heute morgen geritten.« Naomi erinnerte sich, daß der Jockey extra wegen des Trainings zur Farm gekommen war. »Sieh nach, ob er noch da ist.«
»Ja, Ma’am.« Der Pfleger eilte davon.
»Sie ist heute morgen gut gelaufen.« Naomi bückte sich neben Moses und untersuchte selbst das lahme Bein. Sanft bewegte sie es hin und her, um zu prüfen, ob die Schulter in Mitleidenschaft gezogen war. »Sieht nach einer Prellung aus«, murmelte sie. Das Bein hatte sich verfärbt, Zeichen eines Blutgerinnsels unter der Haut. Vermutlich ist der Knochen verletzt, dachte sie. Mit etwas Glück aber nicht gebrochen. »Sie sollte nächste Woche in Saragota an den Start gehen.«
»Vielleicht schafft sie’s noch.« Doch Moses zweifelte daran. Nicht mit diesem Bein. »Wir können die Schwellung lindern, sollten aber trotzdem den Arzt rufen. Eine Röntgenaufnahme kann nicht schaden.«
»Ich kümmere mich darum und werde mit Reno sprechen.« Naomi richtete sich auf und legte der Stute den Arm um den Hals. Die Pferde waren zwar Kapitalanlage, ein Geschäft, doch das tat ihrer Liebe zu ihnen keinen Abbruch. »Sie hat das Herz eines Siegers, Moses. Ich will nicht hören, daß sie nie wieder Rennen laufen kann.«
Eine knappe Stunde später beobachtete Naomi grimmig, wie die verletzte Stute behandelt wurde. Die Wunde war bereits mit Wasser gekühlt worden, und nun massierte Moses selbst das Bein mit einer Mixtur aus Essig und kaltem Wasser. Der Tierarzt stand im Stall und zog eine Spritze auf.
»Wann kann sie das Training wiederaufnehmen, Matt?«
»In einem Monat, sechs Wochen Pause wären noch besser.« Matt Gunner blickte zu Naomi. Er hatte ein angenehmes, längliches Gesicht und freundliche Augen. »Der Knochen und das Gewebe sind verletzt, Naomi, aber zum Glück ist nichts gebrochen. Haltet sie im Stall, massiert sie, macht leichte Bewegungsübungen mit ihr, dann kommt sie wieder in Ordnung.«
»Wir sind scharf geritten«, warf Reno ein, der vor der Box stand und zusah. Er hatte seine Arbeitskleidung gegen einen seiner gutgeschnittenen Anzüge, die er mit Vorliebe
trug, vertauscht. Die Rennbahn war sein Lebensinhalt, und für ihn wie auch für seine Kollegen gab es nichts Wichtigeres als die empfindlichen
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