Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)
seinen Zorn. »Denkst du, daß ich mit Naomi schlafe?«
»Ich weiß es.«
»Da fühle ich mich aber geschmeichelt.«
»Sie – was für ein Mensch sind Sie eigentlich?«
»Du hast keine Ahnung, Kelsey. Überhaupt keine. Ich bezweifle stark, daß dir in deiner geordneten kleinen Welt schon Leute wie ich über den Weg gelaufen sind.« Er trat auf sie zu und packte sie im Nacken, wohl wissend, daß dies ein kleinlicher, gemeiner Racheakt war. Doch er fühlte sich klein – und schmutzig.
Obwohl sich Kelsey um Haltung bemühte, zitterte sie doch am ganzen Leib. »Nehmen Sie Ihre Hände weg!«
»Du magst, wenn ich dich berühre«, sagte er sanft. »Im Augenblick hast du zwar Angst und weißt nicht, was du tun sollst, wenn ich dich nach oben bringe. Aber warum sollte ich mir die Mühe machen? Der Boden hier tut’s auch.« Seine Stimme klang kühl und beherrscht, doch in seinen Augen loderte ein gefährliches Feuer. »Was würdest du denn tun, Kelsey, wenn ich jetzt hier mit dir schlafen würde?«
Angst schnürte ihr die Kehle zu, so daß ihre Stimme gepreßt
klang: »Ich sagte, Sie sollen Ihre Hände wegnehmen.«
Die Panik, die sich auf ihrem Gesicht zeichnete, traf ihn. Sie blieb auch, als er sie freigab und einen Schritt zurücktrat. Er fühlte Abscheu vor sich selbst.
»Ich entschuldige mich dafür. Aber nur dafür.« Er musterte sie einige Sekunden lang. Langsam kehrte die Farbe in ihr Gesicht zurück. »Du urteilst vorschnell, Kelsey. Aber da du dich bereits festgelegt hast, wollen wir unsere Zeit nicht damit verschwenden, dieses Thema weiterzuverfolgen. Ich bringe dich jetzt nach Hause.«
7
Naomi zog gerade den Gürtel ihres Morgenmantels enger zu, als sie hörte, wie die Vordertür schlug. Der heftige Knall erschreckte sie, aber sie zögerte einen Moment, ehe sie in die Diele ging. War es richtig, überlegte sie, Kelsey nach den Erlebnissen des Abends zu fragen? Sie wußte es nicht. Wenn sie Kelseys Teenagerjahre miterlebt hätte, die Zeit der nächtlichen Gespräche und Diskussionen, der Probleme, Tragödien der Pubertät, dann wüßte sie, was zu tun wäre.
Aber sie hatte keine Erfahrung damit und konnte sich nur auf ihren Instinkt verlassen. Sie hörte Kelsey die Treppe hinaufstürmen und öffnete ihre Zimmertür. Sie würde möglichst unpersönlich sein, nicht fragen und sich nur auf ein flüchtiges »Na, wie war der Abend?« beschränken. Doch als sie das Gesicht ihrer Tochter sah, änderte sie ihre Absicht.
»Was ist passiert?« Ohne nachzudenken faßte sie Kelseys Arm. »Ist alles in Ordnung?«
Kelsey, deren Temperament bei dieser Frage wieder mit ihr durchging, ging augenblicklich zum Angriff über. »Wie kannst du dich nur mit ihm abgeben, und erst recht . . . 0 Gott, du hast mir auch noch zugeredet, den Abend mit ihm zu verbringen!«
»Gabe?« Naomis Finger schlossen sich um den Arm ihrer Tochter. Sie vertraute Gabe ohne Vorbehalt, doch nun beschlich sie ein Gefühl der Angst. »Was hat er getan?«
»Er hat mich geküßt«, fauchte Kelsey, die bei dieser lächerlichen Untertreibung hochrot anlief.
»Dich geküßt«, wiederholte Naomi erleichtert und belustigt zugleich. »Und das ist alles?«
»Interessiert dich das nicht?« Erbost riß Kelsey sich los. »Ich sagte, er hat mich geküßt. Ich habe seinen Kuß erwidert,
und wenn ich mich nicht erinnert hätte, wäre noch viel mehr daraus geworden.«
Naomi seufzte. Wenn sie schon nicht wie Mutter und Tochter miteinander reden konnten, dann vielleicht von Frau zu Frau – für den Anfang. »Komm herein und setz dich.«
»Ich will mich nicht setzen.« Trotzdem folgte Kelsey Naomi ins Schlafzimmer.
»Ich schon.« Naomi bemühte sich, klar und logisch zu denken, als sie sich vor ihre Frisierkommode setzte. »Kelsey, ich weiß, daß du noch unter deiner Scheidung leidest. Aber du bist nun einmal geschieden und damit frei, eine neue Beziehung einzugehen.«
Kelsey hielt in ihrem rastlosen Aufundabgehen inne und schnappte hörbar nach Luft. »Ich bin frei? Hier geht es nicht um mich. Es geht um dich!«
»Um mich?«
»Verstehst du denn gar nichts?« Jetzt mischte sich ihre Wut noch mit Empörung darüber, daß diese Frau, in deren Adern ihr Blut floß, dermaßen oberflächlich sein konnte. »Hast du denn überhaupt keinen Stolz?«
»Tatsächlich«, entgegnete Naomi langsam, »hat man mir schon oft gesagt, ich hätte zuviel davon. Aber ich verstehe nicht ganz, worum es hier geht.«
»Ich versuche dir mitzuteilen, daß dein Liebhaber mit mir
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