Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)
keine Zeit zum Grübeln. Ein erfahrener Pfleger brauchte eine Stunde, um ein Pferd an der Longe alle
Gangarten durchexerzieren zu lassen, und bei Kelsey dauerte es noch eine Viertelstunde länger. Dann war es Zeit für die Mittagsfütterung, wo Getreide, Nüsse und Kleie gemischt, abgemessen und nachgewogen werden mußten. Für Pride gab sie noch einen Eßlöffel Salz und Elektrolyte dazu, und da er mit seinem Futter heikel war, süßte sie ihm die Mischung mit ein wenig Melasse.
Später würde sie ihm einen Apfel vorbeibringen. Nicht nur, um ihn zu verwöhnen, denn Moses hatte ihr erklärt, daß Pferde zusätzlich zu ihrem Futter auch Vitamine in Form von Obst oder Gemüse benötigten. Und Pride zog Äpfel den Möhren vor. Besonders die saftigen Granny Smith fraß er mit Begeisterung.
»So, das wär’s«, murmelte sie, als er sich seinem Mittagessen widmete. »Und du frißt alles auf, klar?«
Er beäugte sie kauend.
»Von dir hängt eine Menge ab, mein Freund. Und ich glaube, du hättest auch nichts dagegen, als Sieger umjubelt zu werden.«
Pride schnaubte, was Kelsey wie ein Achselzucken wertete. Kichernd liebkoste sie ihn. »Du kannst mich nicht täuschen, Bursche. Du willst das genauso sehr wie wir.«
Die von der Arbeit schmerzenden Schultern rollend, verließ sie den Stall, um den Rest der täglichen Arbeit zu erledigen.
Vermutlich hegte Moses keinerlei sadistische Absichten, wenn er sie so gnadenlos antrieb, doch das änderte nichts daran, daß ihr alle Muskeln ihres Körpers weh taten, sie von Kopf bis Fuß mit Schlamm verschmiert war und ihr Magen sie knurrend ermahnte, endlich etwas zu essen.
Nachdem sie sich gründlich die Stiefel abgeputzt hatte, betrat sie die Küche und stürzte sich auf den Kühlschrank. Mit einem Freudenschrei entdeckte sie dort eine Platte mit kaltem Huhn, über das sie sich sofort hermachte.
Sie biß gerade in eine Keule, als Gertie hereinkam. »Miß Kelsey!« Entsetzt, ihr kleines Mädchen in schmuddeligen Jeans an der Spüle lehnen zu sehen und mit den Händen
zu essen, kramte sie in einem Schrank herum und suchte einen Teller. »Was sind denn das für Manieren!«
»Ich habe Hunger. Und das ist das beste Hühnchen, das ich je gegessen habe.« Kelsey schluckte. »Das ist schon meine zweite Keule.«
»Setzen Sie sich an den Tisch. Ich richte Ihnen rasch was her.«
»Nein, das ist wirklich nicht nötig.« Ab und zu waren gute Manieren nur lästig. Kelsey biß wieder in ihre Hühnerkeule. »Ich bin zu schmutzig, um mich irgendwo hinzusetzen und viel zu hungrig, um mich erst zu waschen. Ich habe drei Kochkurse absolviert und könnte trotzdem niemals so ein Huhn zubereiten.«
Vor Freude errötend, winkte Gertie ab. »Natürlich könnten Sie das. Ein Rezept meiner Mama. Ich zeig’ Ihnen irgendwann mal, wie’s gemacht wird.«
»Weißt du, Gertie, ich könnte dieser Hühnerkeule fast ein Gedicht widmen.«
»Ach, übertreiben Sie nicht.« Gertie lief puterrot an und beeilte sich, Kelsey ein Glas Milch einzugießen. »Sie wollen mich auf den Arm nehmen, genau wie Ihr Bruder. Man könnte meinen, der Junge hat noch nie in seinem Leben eine anständige Mahlzeit bekommen.«
»Er hat dich also um den kleinen Finger gewickelt.«
»Ich mag es gern, wenn ein junger Mensch einen herzhaften Appetit hat.«
»Den hat er wirklich.« Und ich auch, dachte Kelsey, die mit sich kämpfte, ob sie noch ein Stückchen essen sollte oder nicht. »Ist Naomi da?« fragte sie Gertie.
»Sie mußte weg.«
»Hm!« Also waren sie beide allein. Vielleicht sollte sie die Gelegenheit nutzen, um Gertie ein wenig auszuhorchen. »Gertie, ich habe oft über jene Nacht nachgedacht. Und über Alex Bradley.«
Gerties Gesicht wurde ausdruckslos. »Das ist erledigt und vorbei.«
»Du warst nicht zu Hause«, hakte Kelsey vorsichtig nach.
»Nein.« Gertie griff nach einem Geschirrtuch und fing an, die ohnehin schon blinkende Spüle zu polieren. »Und das werde ich mir nie verzeihen. Meine Mama und ich, wir waren im Kino und haben anschließend Pizza gegessen, während Miß Naomi mit diesem Mann allein war.«
»Du mochtest ihn nicht?«
Schniefend schlug Gertie ihr Geschirrtuch auf die Spüle. »Ein aalglatter Kerl. Der wäre einem aus dem Händen geflitscht, wenn man ihn zu fest angefaßt hätte. Miß Naomi hatte mit solchen Typen nichts zu schaffen.«
»Und warum ist sie dann mit ihm . . . ausgegangen?«
»Hatte wohl ihre Gründe, nehm ich an. Manchmal kann Miß Naomi ziemlich störrisch sein, ja, das kann
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