Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)
zeigen, schaute sie sich nicht im Zimmer um, sondern heftete ihren Blick fest auf ihre Enkelin. »Verbringst du so deine Zeit? Du bist so schmutzig wie eine Feldarbeiterin.«
»Ich bin gerade erst reingekommen. Vielleicht hast du gar nicht bemerkt, daß es regnet.«
»Sprich nicht in diesem Ton mit mir. Es ist unentschuldbar, Kelsey, daß du deine Gaben und deine Erziehung derart verschwendest. Noch schlimmer ist allerdings, daß du durch dein Verhalten deine Familie ins Unglück stürzt.«
»Großmutter, das haben wir doch alles schon einmal durchgekaut.« Kelsey stellte ihr Milchglas ab und ging
zum Kamin, um das Feuer stärker zu schüren. Ob es nun am Regen lag oder der Besucherin, sie fröstelte plötzlich. »Ich kenne deine Ansichten und deine Gefühle, was das betrifft. Und ich glaube kaum, daß du den langen Weg gemacht hast, nur um das alles zu wiederholen.«
»Wir beide haben nicht viel Rücksicht auf die Wünsche des anderen genommen, Kelsey.«
»Nein.« Nachdenklich hängte Kelsey den Feuerhaken an seinen Platz und wandte sich um. »Das haben wir wohl nicht.«
»Aber ich kann nicht glauben, daß du in dieser Angelegenheit gegen meine Wünsche handelst. Heute morgen stand dein Name in allen Zeitungen. Dein Name im Zusammenhang mit einem Mord auf der Rennbahn!«
Neuigkeiten verbreiten sich schnell, dachte Kelsey zynisch. Sie war schon im Stall bei der Arbeit gewesen, lange ehe die Morgenzeitungen erschienen. »Das konnte ich nicht wissen. Wenn ich das gelesen hätte, dann hätte ich Dad sofort angerufen, um ihn zu beruhigen. Ich war hier, Großmutter. Der Mann, der umgebracht wurde, arbeitete auf der Nachbarfarm. Ich bin nur zufällig in die Sache hineingeraten.«
»Der springende Punkt ist doch, daß du überhaupt dort warst. Auf einer Rennbahn, zusammen mit der Art von Leuten, die an einem derartigen Ort zusammenkommen.«
Kelsey neigte den Kopf. »Mich zieht sie auch an.«
»Werde bitte nicht kindisch.« Milicent preßte die Lippen zusammen. »Ich erwarte mehr von dir. Ich erwarte, daß du an die Familie denkst.«
»Was hat denn der arme Mann, der gestern getötet wurde, mit der Familie zu tun?«
»Dein Name wurde mit dem von Naomi in Verbindung gebracht. Und ihr Name in Verbindung mit einem Mord wühlt alte Skandale wieder auf. Einer Frau von deiner Intelligenz sollte ich das alles eigentlich nicht mehr auseinandersetzen müssen. Kelsey, möchtest du, daß dein Vater deswegen leidet?«
»Natürlich nicht. Und warum sollte er leiden? Großmutter,
ein alter Mann ist brutal ermordet worden. Es war reiner Zufall, daß ich ihn gefunden habe. Selbstverständlich mußte ich eine offizielle Aussage machen, aber das war schon alles. Ich habe ihn noch nicht einmal gekannt. Und was Dad betrifft, ihn geht die ganze Sache überhaupt nichts an.«
»Ein Makel bleibt immer zurück. Kelsey, diese Welt ist nicht die unsere. Man hat dich gewarnt, was du zu erwarten hast, mit welcher Art von Leuten du zusammentreffen wirst. Nun haben sich unsere schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet. Und da dein Vater zu weichherzig ist, um dir die Leviten zu lesen, muß ich das tun. Ich bestehe darauf, daß du deine Sachen packst und mit mir nach Hause kommst.«
»Es wiederholt sich doch alles im Leben.« Naomi stand in der Tür, aschfahl im Gesicht. Ihr taubengraues Kostüm unterstrich noch die Zerbrechlichkeit ihrer Gestalt. Doch die Zerbrechlichkeit täuschte. Als sie ins Zimmer trat, wirkte sie so elegant und kraftvoll wie eines ihrer preisgekrönten Stutfohlen. »Wenn ich mich recht entsinne, habe ich dich einmal etwas ganz Ähnliches zu Philip sagen hören.«
Milicents Miene wurde eisig. »Ich bin hier, um mit meiner Enkelin zu sprechen. Ich habe nicht das geringste Interesse, mit dir auch nur ein Wort zu wechseln.«
»Du befindest dich in meinem Heim, Milicent.« Naomi legte ihre Handtasche ab und ließ sich in einen Sessel fallen. »Es steht dir selbstverständlich frei, zu Kelsey zu sagen, was du willst, aber du wirst aufhören, mich zu beleidigen. Die Zeiten sind vorbei.«
»Wie ich sehe, hast du im Gefängnis nichts dazugelernt.«
»Wenn ich dir aufzählen würde, was ich dort alles gelernt habe, würde ich nicht vor heute abend fertig.« Zu ihrer Genugtuung stellte Naomi fest, daß sie Milicent mittlerweile gefaßt gegenübertreten konnte. Sie war sich nicht sicher gewesen, wie sie auf ein Wiedersehen mit ihrer ehemaligen Schwiegermutter reagieren würde.
»Du bist noch dieselbe Schlange wie früher! Kalt,
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