Schatten über Oxford
wieder dahin zurück, wo ihr hingehört.«
Allmählich gewöhnte ich mich an ihre Art, obwohl es mich immer noch störte, dass sie sprach, als stünde sie vor einer Versammlung.
Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, blieb ich einige Augenblicke auf den Stufen stehen. Ich mochte weder gehen noch bleiben. Wahrscheinlich waren die Kinder sofort wieder ins Vorderzimmer gelaufen, um mir nachzusehen.
Und so verließ ich sie, wie ich sie bei meiner Ankunft zuerst gesehen hatte: Ihre weißen Gesichter drückten sich an das Fensterglas, während ich aus ihrem Leben verschwand. Ich drehte mich um und winkte, und ich glaube, sie winkten zurück. Aber vielleicht hat meine Fantasie das auch nur als kleinen Trost hinzugedichtet.
5
Ich besitze immer noch den ersten Brief, den du nach Hause geschrieben hast, Chris. Ich bewahre ihn auf, weil er mich tröstet und weil er mich überzeugt, dass es nichts gab, worüber wir uns hätten aufregen oder Sorgen machen müssen. In deinem kurzen Schreiben stand nicht der leiseste Hinweis auf das, was später geschah – oder doch?
Liebe Mama,
ich wollte Dir nur sagen, dass wir gestern gesund hier angekommen sind. Wir haben alle Butterbrote aufgegessen, die Du uns für die Zugfahrt gemacht hast. Nur die geriebene Karotte wollte Susie nicht essen, obwohl ich ihr erklärt habe, dass man dann im Dunkeln sehen kann. Jetzt sind wir in unserem Quartier. Wir sind erst im Zug und später noch mit einem Bus gefahren. Dann mussten wir im Gemeinderaum der Baptisten warten. Miss King, die für die Unterbringung zuständig ist, hat uns gesagt, wo wir als Nächstes hinsollten. Sie wollte, dass wir Tante Naomi zu ihr sagen, aber das haben wir nicht gemacht. Es war nicht besonders weit vom Gemeinderaum, und ich habe Susies Koffer getragen. Aber sie hat ganz allein auf ihre Gasmaske aufgepasst, wie Du gesagt hast.
Unser Quartier ist sehr nett, genau wie unsere Pflegemutter Miss Marlyn, und es geht uns sehr gut. Ich hoffe, Dir geht es auch gut, und hoffentlich kommen nicht mehr so viele Raketen. Ich schreibe Dir bald wieder.
Dein dich liebender Sohn Christopher. XX
P. S. Das zweite X ist für Susie. Sie ist schon ins Bett gegangen, und ich will sie nicht wecken. Ich glaube, sie ist nach der langen Reise ziemlich müde.
Unser Quartier ist sehr nett , genau wie unsere Pflegemutter Miss Marlyn .Sind das wirklich deine eigenen Gedanken, Chris, oder hast du das nur geschrieben, weil sie dir über die Schulter geblickt hat?
Aber vielleicht täusche ich mich auch und lese viel zu viel in deine höflichen Sätze hinein. Möglicherweise warst du ja wirklich nur erleichtert, die lange Reise hinter dir zu haben und endlich ein Dach über dem Kopf, ein sauberes Bett und eine Mahlzeit auf dem Tisch vorzufinden. Vermutlich ist Susie nicht zum Essen aufgeblieben. Ich kann sie mir genau vorstellen, wie sie am Tisch saß und ihr die Augen zufielen. Ich hoffe, jemand hat sie in eine warme Decke gehüllt und ihr einen Gutenachtkuss gegeben; im Zweifelsfall hättest auch du das übernehmen können. Du bist ein feiner Kerl, Chris. Warst ein feiner Kerl, hätte ich wohl besser sagen sollen.
Was könnte ich zu meiner Verteidigung vorbringen? Während der ganzen Zeit hatte ich viel zu viel mit meinen eigenen Sorgen zu tun und versuchte, mich nach dem Lagerleben wieder in England zurechtzufinden. Mein Hauptanliegen war es allerdings, mich um die Frau, nein, die Witwe meines Bruders zu kümmern, die sich durch das Endstadium ihrer schrecklichen Krankheit hustete.
Ich dachte, die Kinder wären sicher und gut untergebracht in diesem warmen, gut situierten Haus, das dort oben auf dem Hügel lag wie eine schnurrende Katze vor dem Kamin. Eine Katze, die gerade Sahne geschleckt und den Inhalt einer ganzen Büchse Sardinen gefressen hat. Woher sollte ich es auch besser wissen?
Zweiter Teil
Oxford 2000
1
»Hören Sie, Süße, ich weiß, dass Sie sehr krank waren und sich in den letzten Monaten wacklig auf den Beinen gefühlt haben, aber Sie sollten sich jetzt endlich wieder aufraffen. Wenn Sie Schriftstellerin bleiben wollen, müssen Sie sich bald hinsetzen und arbeiten.«
Wenn ihre Agentin sie »Süße« nannte, wusste Kate Ivory, dass es schlechte Nachrichten gab. Estelle gab sich zwar alle Mühe, mitfühlend zu klingen – sie selbst hätte es wahrscheinlich simpatico genannt – doch die Anstrengung, Kate nicht wütend und frustriert anzubrüllen, war ihrer Stimme deutlich anzuhören.
»Sie können es sich
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