Schatten über Oxford
ausgegangen oder als wäre sie jemand ganz anderes.
»Hör auf mit dem Unsinn«, sagte Roz forsch. »Ich weiß, dass du es bist, Kate. Und ich wette, du sitzt mit einer Tasse lauwarmem Kaffee irgendwo herum und überlegst, ob du das Buch aus der Bibliothek weiterlesen oder gleich wieder ins Bett gehen sollst.« Roz kannte sie einfach zu gut. Es war ein Kreuz mit diesen Müttern!
»Und deswegen rufst du an?«, erkundigte sie sich vorsichtig. Roz machte wenig Aufhebens und die meisten Dinge, doch selbst ihr merkte man eine gewisse Besorgnis über die lange Genesungszeit ihrer Tochter an. Doch Kate wünschte sich nur, dass man sie endlich in Frieden ließ.
»Ich habe mich gerade gefragt, wie du mit deinem neuen Buch vorankommst«, sagte Roz. »Du hast doch inzwischen angefangen, oder?«
»Hast du etwa mit Estelle gesprochen?«
Eine kurze Pause entstand. »Estelle? Müsste ich sie kennen?«
Also hatte sie es getan. Es musste wirklich ernst sein, wenn Estelle sich so weit herabließ, ihre Mutter anzurufen.
»Ihr habt hinter meinem Rücken über mich geredet und euch den Mund über meine Privatangelegenheiten zerrissen.«
»Estelle hat versehentlich deine alte Nummer angerufen. Aus Gewohnheit, nicht weil sie irgendwelche finsteren Absichten hegte. Und weil ich nun einmal hier wohne, bin ich ans Telefon gegangen, und wir gerieten in ein Gespräch über dich. Sie macht sich Sorgen um deine Gesundheit. Genau wie ich.« Sie meint meine psychische Gesundheit, übersetzte Kate für sich. Alle scheinen zu denken, dass ich nicht mehr alle Tassen im Schrank habe. »Niemand hat etwas gegen dich«, fügte Roz mit Nachdruck hinzu. »Und jetzt hör auf herumzureden und beantworte meine Frage: Hast du mit deinem neuen Buch schon angefangen?«
»Nein. Und ich weiß auch nicht, ob ich jemals wieder schreiben werde.«
Die Dramatik prallte an Roz ab. »Und was gedenkst du in Zukunft mit dir anzufangen? Du willst doch nicht etwa für den Rest deines Lebens auf dem Sofa herumliegen wie diese Madame Récamier? Selbst der reizende George könnte langsam genug von Dir haben, wenn du dich noch einen oder gar zwei Monate weiter so gehen lässt.«
Der reizende George würde nie genug von ihr haben. Oder doch? »Ich könnte mir eine Teilzeitstelle suchen«, sagte sie.
»Ach, wirklich? Nun, mit ein bisschen Glück könnte das etwas bringen. Ich weiß zwar nicht, zu welchen Qualifikationen du es im Lauf der Jahre gebracht hast, aber vielleicht hast du ja ein paar nützliche Dinge gelernt, mit denen du Geld verdienen könntest. Wie wäre es mit Verkäuferin? Oder liegt es dir mehr, in einem Büro für irgendjemanden Manuskripte abzutippen?«
»Hey, ich bin Schriftstellerin«, explodierte Kate.
»Nicht, solange du nicht schreibst«, gab Roz knapp zurück. »Herumzuliegen und in Selbstmitleid zu ersticken bringt dich nun einmal leider nicht weiter. Was also gedenkst du dagegen zu tun? Früher sind dir nie die Ideen ausgegangen.« Dieses früher blieb in der Luft hängen. Weder Kate noch ihre Mutter sprachen je von dem Angriff in der Kathedrale.
»Ich hatte einen Entwurf für einen Roman ausgearbeitet, der während der Französischen Revolution spielen sollte. Etwa in der Art wie Das scharlachrote Siegel ,allerdings mit einer Frau als Heldin. Aber Estelle hat gesagt, dass es für historische Romanzen im Augenblick keinen Markt gibt«, sagte Kate. Dabei bemühte sie sich, jegliches Selbstmitleid aus ihrer Stimme zu verbannen, scheiterte aber kläglich. Während sie sprach, merkte sie plötzlich, welch blöde Idee der Entwurf gewesen war.
»Aber was will sie dann von dir?«
»Etwas Modernes.«
»Das schaffst du.«
»Etwas über Mittdreißiger mit abwechslungsreichem Sexualleben, die sich fragen, ob sie sich auf eine Beziehung einlassen, heiraten und Kinder haben sollten«, erklärte Kate düster.
»Ja, davon hast du wirklich keine Ahnung«, meinte Roz trocken.
»Ich finde es nicht nett von dir, mir das vorzuhalten«, entgegnete Kate. »Außerdem bin ich viel zu müde, um dir Paroli zu bieten.«
»Ich bin drauf und dran, noch viel deutlicher zu werden. Zum Beispiel sollte ich dir vielleicht sagen: Reiß dich endlich zusammen!«
»Ich habe ja versucht, mich zusammenzureißen, aber es hat nicht funktioniert. Hast du noch mehr so tolle Vorschläge? Wenn nicht, dann lege ich jetzt wohl besser auf.«
»Warte noch. Wenn Estelle von ›modern‹ spricht, was meint sie damit genau?«
»Habe ich dir doch gesagt. Mittdreißiger …«
»Nein.
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