Schatten über Oxford
gemacht.
»Bezeichne es doch einfach nicht als Arbeitszimmer«, hatte George vorgeschlagen. »Nenn es dein Boudoir, dann kannst du dort schmollen, solange es dir Spaß macht.«
»Ich schmolle nie«, war Kates Antwort gewesen. Dann hatte sie die Tür fest hinter sich geschlossen und sich mit geschlossenen Augen auf das Bett gelegt, um sich von dieser Beleidigung zu erholen.
Eigentlich wusste sie absolut nicht, wieso George sich auf sie eingelassen hatte.
Und nun war der letzte Mieter nach mehrjähriger Mietdauer ausgezogen.
»Jetzt wird modernisiert«, erklärte George ohne sonderliche Begeisterung. Obwohl er sich gern elegant und teuer kleidete, schien ihm sein sonstiges Eigentum kein großes Kopfzerbrechen zu bereiten, solange es in einem einigermaßen ordentlichen und sauberen Zustand war. Er bemühte sich, Kate in das Aussuchen von Tapeten und Küchenutensilien miteinzubeziehen, doch sie verlor schon bald das Interesse und zog sich in Georges Wohnung zurück, um ein Buch zu lesen oder sich einem möglichst anspruchslosen Fernsehprogramm zu widmen. Sie überließ es George, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, in welcher Farbe er die freigewordene Wohnung streichen sollte.
Durch das Gespräch mit Roz aus ihrer Lethargie gerissen, verspürte Kate plötzlich das Bedürfnis, mit George über das Projekt eines neuen Romans zu diskutieren, und machte sich auf die Suche nach ihm.
Das Haus war so unterteilt, dass von einem kleinen Windfang aus zwei Türen zu den jeweiligen Wohnungen führten. Durch die rechte Tür erreichte man die Wohnung von George und Kate, hinter der linken Tür führte eine Treppe in die Mietwohnung hinauf. Die Tür war nur angelehnt; Kate stieß sie auf und stieg die Treppe hinauf.
Die Wände waren schmuddelig, der Teppich wirkte fadenscheinig. Kate rümpfte die Nase. Erinnerungen an Bratfisch und indische Currys vom Imbiss an der Ecke lungerten wie Gespenster auf dem Treppenabsatz herum. Ein neuer Anstrich schien dringend nötig. Hyazinthenblau und Aqua würden gut passen und einladend aussehen, dachte Kate. Jedenfalls erheblich besser als das scheußliche Grün, das mindestens schon zwanzig Jahre alt war. Vorsicht!, schoss es ihr durch den Kopf. Ehe du dich versiehst, zeigst du Interesse und machst mit. Bist du wirklich schon bereit, deine ausschließliche Beschäftigung mit dir selbst aufzugeben? Eher nicht!
Zu ihrer Linken befanden sich Bad und Schlafzimmer, rechts ging es in das große Wohnzimmer mit dem weiten Ausblick über den Vorgarten und das hübsch begrünte Vorstadtsträßchen. Im Viertel gab es noch mehr alte und große Häuser wie das, in dem sie mit George wohnte, doch modernere, kleinere, eher schuhkartonartige Eigenheime hatten sich in die wuchernden Gärten hineingefressen und eine jüngere Generation von Hausbesitzern in den Vorort geholt.
Die Küchenzeile befand sich im Wohnraum. Kate stellte fest, dass sowohl der Herd als auch der Fußboden einmal ordentlich geschrubbt werden müssten, doch sie verspürte nicht die geringste Lust, ihre Hilfe anzubieten.
Zwei Handwerker waren dabei, sich im Schlafzimmer um die Neuverlegung der Elektrik zu kümmern. Auf der Suche nach George streckte Kate den Kopf durch die Tür.
»Tut mir leid, schöne Frau«, grinste einer der beiden. »Wir haben ihn schon länger nicht mehr gesehen.«
»George!«, rief Kate. Sie wusste, dass er irgendwo stecken musste.
»Hier oben!« Jetzt erst fiel Kate auf, dass die Speichertreppe ausgefahren war. Den Speicher hatte sie völlig vergessen. In ihrem kleinen Haus in der Agatha Street gab es solche Extravaganzen nicht.
Sie kletterte die Leiter hinauf und spähte durch die Luke.
Was sie entdeckte, kam ihr vor wie die Bühne für ein Kindertheater. Eine Lampe mit einem altmodischen Schirm hing von der Decke und warf einen dreieckigen gelben Lichtstrahl auf die Bühnenmitte. Der restliche Speicher lag im Dunkel. Unidentifizierbare Relikte aus der Familiengeschichte verbargen sich hinter Spinnweben und Staub. In der Mitte des Lichtkegels saß George Dolby im Schneidersitz auf dem Boden, und zwar mit dem Gesicht nach rechts, sodass Kate ihn im Profil sah. Eine völlig sich selbst genügende Persönlichkeit, erkannte Kate, und doch wusste sie, dass er ihr zuhören würde, wenn sie ihn ansprach. Er würde ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit widmen, als wäre sie der einzige Mensch auf der Welt, und zwar auch dann, wenn sie ihn lediglich fragte, ob er seinen Tee lieber jetzt oder später trinken
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